Selbstdisziplin

Selbstdisziplin und ihre Fallstricke

Gesellschaften werden durch gemeinsam geteilte Werte zusammengehalten. Das verbindet Menschen trotz aller trennenden Fremdheit. Steht man außerhalb der jeweiligen Werkgemeinschaft können einem diese Werte durchaus befremdlich vorkommen. Wenn man jedoch davon ist, kommt es einem intuitiv unmoralisch vor, diese Werte in Frage zu stellen. In unserem Kulturkreis, der auch gerne als Abendland bezeichnet wird, ist ein zentraler Wert der der Selbstdisziplin. Doch (eine übermäßig ausgebildete) Selbstdisziplin kann, wie ich in diesem Blogbeitrag ausführen möchte, auch ganz eigene Fallstricke mit sich bringen.

Selbstdisziplin: Einleitung

Wer sich selbst disziplinieren kann, hat in unserer Kultur bessere Erfolgschancen als ein undisziplinierter Mensch. Es scheint auf der Hand zu liegen, dass jemand, der kurzfristige Gelüste, Triebe und Bedürfnisse aufschieben kann, eher an sein langfristiges Ziel gelangt, als ein Mensch, der sich lediglich von seinen spontanen Impulsen leiten lässt. Es scheint somit schwer vorstellbar, dass der Wert der Selbstdisziplin kein Gut an sich sein könnte.

Was ist eigentlich Selbstdisziplin?

Bestimmte Worte sind so geläufig, dass wir ihre Definition für völlig selbstverständlich halten. Bei der Selbstdisziplin ist das eindeutig auch der Fall. Intuitiv verbinden wir tendenziell etwas Positives mit diesem Wort. Aber verstehen wir wirklich dasselbe darunter? Um über Selbstdisziplin sprechen zu können, benötigen wir eine geeignete Definition. Ich beginne hier mit der Arbeitshypothese, dass „Selbstdisziplin die Fähigkeit bezeichnet, momentane Wünsche zugunsten langfristiger Ziele oder moralischer Vorstellungen aufzuschieben oder gegebenenfalls vollständig darauf zu verzichten.“

Selbstdisziplin ist hart

Laut der oben genannten Definition sollte auf der Hand liegen, dass Selbstdisziplin mit bewusster Anstrengung verbunden ist. Ich verzichte auf etwas, um etwas anderes zu erreichen. Natürlich ist das anstrengend, muss das anstrengend sein, oder? Überraschenderweise gibt es jedoch auch gegenläufige Betrachtungsweisen. So beschreibt John Bargh in seinem Buch „Vor dem Denken – wie das Unbewusste uns steuert“ (BARGH, J., et al., 2018), dass Menschen die vielen positiven, also hoch angesehenen Gewohnheiten nachgehen, dies eben ohne große bewusste Anstrengung tun.

„Menschen, die gesund essen, regelmäßig Sport treiben, freundlich zu anderen sind und produktive Arbeitsgewohnheiten haben, tun dies in großen Teilen unbewusst.“ 

Positive Gewohnheiten?

Nun beißt sich die Katze im gewissen Maße in den Schwanz, denn es drängt sich die Frage auf, was positive Gewohnheiten sein sollen? Nun ja, Gewohnheiten, die unsere Kultur für gut hält. In anderen Gesellschaften und zu anderen Zeiten könnten positiv bewertete Gewohnheiten bzw. Eigenschaften auch darin bestehen, besonders gut auf seinen Ehemann zu hören oder gottesfürchtig zu sein oder besonders gut darin zu sein, seine Feinde mit einem Schwert zu durchbohren oder einfach nur als männlicher oder adliger Mensch geboren zu sein. Der Wert der Selbstdisziplin bezieht sich also direkt oder indirekt auf andere, in unserer Kultur hoch angesehene Werte.

Belohnungen & Symbole

Wer also in unserer Kultur demonstriert, dass er oder sie den Wert der Selbstdisziplin verkörpert, hat bessere Erfolgschancen. Wer beispielsweise seinen Hunger unterdrücken kann, wird gesellschaftlich-kulturell instinktiv als diszipliniert wahrgenommen und bekommt dafür Belohnungen, in Form von materieller und immaterieller Anerkennung. Insbesondere Schlankheit demonstriert die Verkörperung des Ideals der Selbstdisziplin (KLOTTER, C, 2016) und es ist nicht weiter verwunderlich, dass Angehörige der aus sozioökonomisch besser gestellten Gesellschaftsmilieus tendenziell schlanker sind (und mehr Probleme mit Essstörungen haben) als Menschen die sozioökonomisch benachteiligt sind (und mehr Probleme mit Mehrgewicht aufweisen) (KUNTZ, B & LAMBERT, T., 2010). 

Selbstdisziplin ist attraktiv

Wenn jemand schlank ist, wirkt er oder sie wie jemand, der sich selbst disziplinieren kann. Solche Menschen werden bewundert und beneidet weil sie die kulturellen Ideale verkörpern oder diesen zumindest nahe kommen. Sie gelten nach unseren Normen als attraktiv. Was aber, wenn diese Menschen sich gar nicht dafür anstrengen müssen, sondern einfach durch ihre Erziehung auf diese Verhaltensweisen konditioniert wurden oder genetische Merkmale mitbringen, die es ihnen spielerisch leicht machen, schlank zu bleiben?

Die Zufälligkeit der Attraktivität

Es ist somit nicht unbedingt attraktiv, sich disziplinieren zu können, im Sinne eines bewussten Verzichts. Stattdessen gilt als attraktiv, wer die Ideale verkörpert. Man könnte jetzt noch die steile These aufstellen, dass jemand, der oder die nach Belieben essen kann und trotzdem das Schlankheitsideal erfüllt, sogar noch attraktiver ist als jemand, der sich dafür die ganze Zeit kasteien muss. Er oder sie strahlt Lockerheit aus. 

Aber ist das nicht furchtbar unfair, möchte man fragen. Dass diejenigen, die das Glück haben, einen Körper ihr eigen zu nennen, der dem Ideal entspricht und ihn sich nicht mal verdienen mussten, am meisten für diesen geschätzt und bewundert werden?

Leistungsorientierung

Angeblich leben wir in einer Leistungsgesellschaft – das hört man an jeder Ecke und es wird erwartet, von früh an. Bereits in der Schulzeit sollen wir Leistung bringen und auch hier zeigt sich das Motiv der Ungerechtigkeit in seiner vollen Blüte. Diejenige, die mit einem überdurchschnittlich hohen Intelligenzquotienten geboren wird, erhält gute Noten und damit verbundene Anerkennung, ohne dafür hart arbeiten zu müssen. Derjenige hingegen, der die Dinge schlicht nicht begreift, obwohl er sich noch so stark anstrengt, hat das Nachsehen.  

Unfaire Welt

Attraktivität und Leistungsfähigkeit sind also kaum durch Selbstdisziplin erreichbare Ziele, sondern stärker durch zufällig verteilte und kulturell hoch angesehene Eigenschaften und Talente determiniert. Ähnlich verhält es sich mit Reichtum – nicht die Leistungsstärkste besitzt das größte Vermögen, sondern der glückliche Erbe. Wir fassen zusammen: Die Welt ist ungerecht und kein Märchen der Welt mit Happy End kann daran etwas ändern. 

Nicht die Guten, Fleißigen und Gerechten gewinnen, sondern die Glücklichen.

Verteidigung der Selbstdisziplin

Will ich damit behaupten, dass Selbstdisziplin nichts weiter ist, als ein Hirngespinst unserer Kultur? Nein, ganz sicher nicht. Denn wer denkt, dass Selbstdisziplin am Ende zum Erfolg, Attraktivität und Reichtum führt, hat damit nicht ganz unrecht (BAUMEISTER, R. & TIERNEY, J, 2012). Es ist in vielen Fällen eine notwendige, jedoch nicht hinreichende Bedingung für das Erreichen individueller Ziele. Materieller Erfolg wird durch disziplinierte Arbeit wahrscheinlicher. Körperliche Attraktivität kann durch gesundheitsförderliche Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten gesteigert werden und generell hängt Leistungsfähigkeit nicht zuletzt von der Fähigkeit zur Selbstdisziplin ab. 

Die Fallstricke der Selbstdisziplin

Wir haben im vorherigen Abschnitt diskutiert, dass es in Bezug auf Schlankheit, Attraktivität und Reichtum nicht um die investierte Anstrengung, sondern um die Verkörperung eines Ideals geht. Genetik und Glück sind entscheidende Faktoren. Es liegt nahe, angesichts der bisherigen wissenschaftlichen Erkenntnis in Bezug zur Selbstdisziplin davon auszugehen, dass sogar die Fähigkeit zur Selbstdisziplin durch genetische Aspekte (mit)bestimmt wird (BAUMEISTER, R. & TIERNEY, J, 2012).

Die Katze beißt sich in den Schwanz

Wir fordern also Intelligenz, Schlankheit, Attraktivität, Reichtum und damit verbunden Selbstdisziplin von den Individuen unserer Wertegemeinschaft, müssen nun aber eingestehen, dass diese „Werte“ zu erheblichen Anteilen zufällig vergeben werden. Leistungsgesellschaft? Naja, oberflächlich. Auf tieferer Ebene lässt sich diese durchaus infrage stellen. Bedeutet das im Umkehrschluss, dass wir uns gar nicht bewusst anstrengen sollten, sondern einfach nur in den Tag hineinleben, à la Arno Dübel?

Von der Selbstdisziplin zur Selbstfürsorge

Nun, das wäre eine Möglichkeit. Aber an etwas zu arbeiten hat ja auch das Potenzial, Sinn und Freude zu vermitteln. Sollten wir uns jemals in einer Post-Arbeitsgesellschaft wiederfinden, stehen wir diesbezüglich vor einer gewaltigen Herausforderung. Es gibt jedoch zwei gegensätzliche Herangehensweise, an die Disziplinierung des eigenen Selbst heranzutreten. Erstens: um eine gewisse Leistung zu erbringen, weil wir den (impliziten) Anforderungen anderer entsprechen wollen. Zweitens: weil die damit verbundene Arbeit uns und anderen währenddessen und im Ergebnis guttut. 

Im ersteren Fall arbeiten wir aus (Selbst)Disziplin, im zweiten aus (Selbst)Fürsorge heraus.

Das Selbst disziplinieren

Um die anfängliche Definition etwas zu verfeinern, stellt sich nicht nur die Frage nach der Disziplin, sondern auch nach dem Selbst. Was ist das Selbst? Gehen wir davon aus, dass das Selbst gleichbedeutend mit dem „Ich“ im Freudschen Drei-Instanzen-Modell der menschlichen Psyche ist. Dann würde Selbstdisziplin zur Befriedigung der Anforderungen anderer bedeuten, unser „Ich“ zu unterwerfen. Und wem oder was? – Den Ansprüchen unserer kulturellen Wertegemeinschaft – also unserem „Über-Ich“, verkörpert durch ein Elternteil, Chef o.ä.. 

Selbstdisziplin in Reinform heißt nach dieser verfeinerten Definition also, Unterwerfung. 

Selbstdisziplin als Werkzeug

In meinen Augen ist Selbstdisziplin ein psychisches Werkzeug. Ich kann mit der Disziplinierung meines Selbst verschleiern, dass es mir an Ich-Stärke mangelt – ich funktioniere dann einfach als Werkzeug eines internalisierten oder verkörperten Über-Ich. Andererseits kann ich mit dem Werkzeug der Selbstdisziplin auch die Verwirklichung meines Selbst und damit meines eigenes gutes Leben unterstützen. Dafür muss ich jedoch erstmal reflektieren, was das gute Leben für mich bedeutet. Denn ohne mein Selbst kennenzulernen, kann ich es auch nicht verwirklichen.

Für das Selbst sorgen

Selbstdisziplin aus Fürsorge wäre somit, unter Bezugnahme auf das Drei-Instanzen-Modell nach Freud, etwas völlig anderes als Selbstdisziplin aus Unterwerfung unter ein Ideal. Denn, in dem ich für mein Selbst/„Ich“ sorge, stärke ich es, lasse es wachsen und gedeihen. Dies sollte nicht mit krankhaftem Narzissmus verwechselt werden, denn dieser ist die verzweifelte psychische Antwort eines schwachen „Ichs“, nicht eines starken. Für sein Selbst zu sorgen, sollte krankhaftem Narzissmus daher entgegenwirken und das Wohlbefinden des „Ichs“ in den Vordergrund stellen.

Ist Selbstfürsorge egoistisch?

Das eigene Wohlbefinden in den Vordergrund zu stellen, mutet im ersten Moment egoistisch an und das ist es auch. Bis zu einem bestimmten Grad. Ständig für andere dasein zu müssen, ein sogenanntes „Helfer-Syndrom“ zu haben, ist ebenfalls eine Ausprägung narzisstischer Tendenzen. Mit einem starken „Ich“ sorge ich einerseits für mich selbst. Da wir jedoch soziale Lebewesen sind, gehört (nach meinem Dafürhalten) zur Verwirklichung des eigenen Selbst implizit auch die Sorge um andere Menschen. 

Selbstfürsorge beinhaltet somit einen gesunden Egoismus, keine Egozentrik. 

Selbstdisziplin und Politik

Nur wenn ich weiß, was mein Selbst möchte, kann ich daran arbeiten, mir diese Wünsche zu erfüllen. Solange ich nur funktioniere, mich also den gesellschaftlichen Idealen unterwerfe, dient mein „Ich“ einem überrepräsentierten Über-Ich. Diese blinde Hörigkeit den Normen und Werten einer Gemeinschaft gegenüber, birgt die Gefahr totalitären Führern zu folgen, was von Theodor Wiesengrund Adorno und seinen Kollegen einst als „autoritäre Persönlichkeit“ erforscht und beschrieben wurde (ADORNO, T. W. et al., 1950).

Selbstdisziplin und Selbstfürsorge

Damit Selbstdisziplin dem eigenen „Ich“ und mit diesem verbundenen anderen (Familie, Freunde, Gesellschaft) zugute kommen kann, muss sie mit Selbstfürsorge und Selbstreflexion einhergehen. Wenn ich „momentane Wünsche zugunsten langfristiger Ziele oder moralischer Vorstellungen aufschiebe oder gegebenenfalls vollständig darauf verzichte“, dann sollte das einen guten Grund haben. Ich sollte es für etwas tun, dem “Ich“ Wert zuschreibe. Entweder für mein zukünftiges Selbst und/oder für andere Menschen. Nicht, weil „man das halt einfach so macht“. 

Implikationen für die Ernährungsberatung und Ernährungstherapie

Ein Licht ist mir aufgegangen, als mein Ernährungspsychologie-Professor Christoph Klotter meinte, dass wir als Ernährungstherapeuten wählen müssen, ob wir unsere Klient*innen in normtreue Anhänger der Ernährungspyramide transformieren wollen oder ihnen beim Finden ihrer Individualität helfen möchten. „Es handelt sich um eine gemeinsame Sinnsuche.“ sagte er und ich glaube, dass in diesen Worten viel Weisheit steckt. Sinnsuche impliziert Selbstfürsorge. Für wen suchen wir nach Sinn, wenn nicht für unser Selbst und Menschen, die uns am Herzen liegen?

Für mich ergibt es keinerlei Sinn, Menschen dazu zu bringen, Autoritäten blind zu folgen. Ich möchte Menschen bei der Gestaltung ihres individuellen guten Lebens unterstützen. 

Quellen:

ADORNO, T. W. et al. (1950): The authoritarian personality.

BAUMEISTER, R. & TIERNEY, J. (2012): Die Macht der Disziplin: Wie wir unseren Willen trainieren können

BARGH, J. et al. (2018): Vor dem Denken: Wie das Unbewusste uns steuert

KLOTTER, C. (2016): Identitätsbildung über Essen Ein Essay über „normale“ und alternative Esser

KUNTZ, B. & LAMBERT, T., (2010): Sozioökonomische Faktoren und Verbreitung von Adipositas