Diätkultur

Diätkultur – Eine Frage der Disziplin?

Wer meinen Blog verfolgt, weiß um meine grundsätzliche Abneigungen gegen Diäten. Und dass, obwohl diese funktionieren. Im Zweifelsfalle immer und immer wieder. Aber was stört mich so sehr am Diäthalten, dass ich darüber schreiben möchte? Diese und weitere Fragen werde ich in diesem Essay beantworten, der sich um die Thematik „Diätkultur“ drehen wird. Eine starke kulturelle Strömung, in der ein Denksystem aufrechterhalten wird, dass dicke Menschen konsequent und institutionell diskriminiert und stigmatisiert. Es bewegt sich jedoch etwas in unserer Gesellschaft. Die Diätkultur wird bekämpft und alternative Lebensstile (wieder-)entdeckt. 

Anmerkung:

Das kein Bild für diesen Essay gewählt wurde, hat gute Gründe. Denn die Diätkultur kann kaum anders als mit Bildern von Körpern, Maßbändern oder anderen Formen von Restriktion visualisiert werden. Diese würden allerdings automatisch klischeeverstärkende Assoziationen in den Köpfen der Rezipient*innen auslösen. Das möchte ich vermeiden. Daher kein Bild, sondern „nur“ Text.

Diätkultur – Definition?

Das Wort „Diätkultur“ steht nicht im Duden. Zumindest steht dort zum Zeitpunkt des Erscheinens dieses Essays lediglich der Begriff „Diät“. Der Duden definiert Diät als „auf die Bedürfnisse eines Kranken, Übergewichtigen o. Ä. abgestimmte Ernährungsweise“. Betrachten wir diese Definition etwas genauer, fällt auf, dass der Duden begrüßenswerter Weise zwischen „krank“ und „übergewichtig“ unterscheidet. Unklar bleibt jedoch, was „o.Ä. bedeuten soll und eine „auf die Bedürfnisse abgestimmte Ernährungsweise“ wirft die Frage auf, welche und wessen Bedürfnisse genau gemeint sind. 

Körperliche? Psychische? Die des jeweiligen Individuums? Oder die Bedürfnisse der Diätkultur selbst?

Diät

Das Wort „Diät“ wird im alltäglichen Sprachgebrauch auf die Ernährungsgewohnheiten von Individuen bezogen. Für die meisten Menschen bedeutet das Wort „Diät“ die Bekämpfung von „Übergewicht“ oder „Adipositas“. Allein die Definitionen dieser medizinisch verwendeten Begriffe bedarf einer kritischen Betrachtung. Außerdem haben sie sich im Laufe der Zeit immer wieder verändert (Vgl. KLOTTER, 1990). Ab wann Menschen als zu dick gelten und ihnen aus diesem Grund eine Diät angeraten wird, ist historisch höchst variabel. Auch wie diese Diäten auszusehen haben, könnte unterschiedlicher kaum sein. Von komplettem Kohlenhydratverzicht (Atkins, Keto) über Mischformen (low carb, mediterrane Diät) bis hin zu starker Fettreduktion (low fat) ist alles in der bunten Diäten-Palette vorhanden.

Diäten vs. Ernährungsumstellung

Ernährungsfachkräfte sind meistens empört, wenn sie von Crash-Diäten hören. Diese nehmen tatsächlich teilweise obskure Formen an (z.B. Schokoladen- oder Kohlsuppendiäten). Auch wenn sie teilweise vor dem Jojo-Effekt nach Crash-Diäten warnen, sind viele Ärzt*innen, qualifizierte Ernährungsberater*innen und Ernährungstherapeut*innen fest davon überzeugt, dass eine Veränderung der Ernährungs- und Bewegungsgewohnheiten zu stetigen Gewichtsabnahmen führen müsste. Eine „reduzierte Mischkost“, oft an der mediterranen Ernährungsweise orientiert, wird gerne empfohlen. Das Ziel bleibt jedoch das selbe: Der Kampf gegen die angeblich so ungesunden Fettpolster.

Dieses Ziel könnte völlig fehlgeleitet sein, wie die „friendly-fat-theory“ vermuten lässt.

Ernährung und Gesundheit

Es ist kaum zu bestreiten, dass eine unverarbeitete, abwechslungsreiche, genussvolle und am Bedarf des Individuums orientierte Ernährungsweise positive Auswirkungen auf die individuelle Gesundheit haben kann (Vgl. METHFESSEL & SCHLEGEL-MATTHIES, 2010). Allerdings lässt sich das Zusammenspiel von Ernährung und Gesundheit nicht außerhalb des sozioökonomischen Status (Vgl. KUNTZ et al., 2018) und anderen Determinanten, wie Lebens- und Arbeitssituation beurteilen (Vgl. DAHLGREEN & WHITEHEAD, 1991 sowie HURRELMANN & RICHTER, 2018). Die individuelle Ebene nimmt nur einen verhältnismäßig kleinen Anteil an den, die Gesundheit bestimmenden Faktoren ein.

Definitionsversuch

Diätkultur ist zur Zeit weder im Duden definiert, noch wird sie an anderen offiziellen Schauplätzen der Gesellschaft angemessen kritisch diskutiert. Allerdings befinden sich diese Strukturen gerade in einem akuten Wandel, was sich u.a. in gewichtsneutralen Ansätzen im Bereich der Ernährungsberatung und Ernährungstherapie zeigt. Dennoch: Beim Versuch Diätkultur zu definieren, müssen wir zum aktuellen Zeitpunkt auf Praktiker*innen zurückgreifen. Christy Harrison, eine amerikanische Ernährungsberaterin, hat Diätkultur so charakterisiert, dass sie: 

  • für die Schlankheit plädiert und sie mit Gesundheit, Glück und moralischer Tugend assoziiert.
  • zur Gewichtsabnahme ermutigt, sodass wir Zeit, Energie und Geld für den Versuch, abzunehmen, verschwenden.
  • ein unerreichbares Schönheitsmodel idealisiert.
  • bestimmte Ernährungsweisen und bestimmte Körper verteufelt und schambehaftet werden lässt, während andere befürwortet werden.
  • Menschen, insbesondere Frauen, die nicht den dünnen Normen und dem vermeintlichen Bild von “Gesundheit” entsprechen werden unterdrückt und diskriminiert, was dadurch ihrer psychischen und physischen Gesundheit schadet.”

Diätkultur verstehen

Die obige Definition, die ich dieser Website entnommen habe, ist durchaus passend. Aber bringen uns Definitionen wirklich weiter? In meinen Augen ist ein empathisches Verstehen von Menschen und ihren Lebenssituationen die wirkungsvollste Methode. Zumindest wenn man eine Verbesserung der Situation anstrebt. Ich möchte daher versuchen, so wenig wie möglich mit dem Finger auf abstrakte „Akteure“ zu zeigen, wie das Patriarchat oder den Kapitalismus. In Phänomen, die unter diese Schlagwörter fallen, befindet sich zwar sicherlich ein Teil des Problems, aber wie kann es gelöst werden? 

Einen Lösungsansatz sehe ich darin zu erforschen wie sich die Glaubenssätze der Diätkultur, die wissenschaftlich längst widerlegt sind, so tief in unsere Denksysteme „fressen“ konnten.

Das Problem: Diäten funktionieren

Die Erwartungshaltung, dass jede*r die Schlankheitsnorm erfüllen könne wird von verschiedenen Seiten in unserer Gesellschaft geschürt und verstärkt. Neben Gewinninteressen, tragen Profisport, mediale Darstellungen und sogar die Kommunikation im medizinischen Bereich zum Problem bei. Immer wieder wird der Appell an die ominöse Selbstdisziplin gerichtet. Und diese affirmiert sich selbst. Denn die kurzfristige Verringerung des Gewichts funktioniert und genau das verstärkt die Illusion der Nachhaltigkeit der Abnehmversuche. Es gibt zweifelsohne eine Kapazität des menschlichen Körpers, das eigene Körpergewicht durch Kaloriendefizit und Wasserverlust immer und immer wieder erheblich zu senken. 

Diätkultur & Weight-Cycling

So offensichtlich die Evidenz, so ignorant sind die meisten Menschen, auch im Gesundheitsbereich, der Tatsache gegenüber, dass Diäten zu Weight-Cycling führen. Weight-Cycling sind Diät und Jojo-Effekt zum Quadrat. Also Gewichtsverlust und anschließende Gewichtszunahme und anschließender Gewichtsverlust und anschließende Gewichtszunahme und… Tendenziell ist Weight-Cycling körperlich und psychisch ungesund. Auch wissen wir, dass Diäten in 16 – 19 von 20 Fällen scheitern (Vgl. MANN, T. et al., 2007). Also warum um alles in der Welt dauert die Umstellung zu einem gewichtsneutralen Gesundheitssystem so lange?

Gesundheitssystem & Autorität

Genauso affirmativ wie es die Selbstdisziplin ist, ist auch das Gesundheitssystem und leider macht es die Möglichkeiten immer genauerer Messmethoden kein bisschen besser. Wir können heute Parameter wie Blutdruck, Cholesterin, Blutzucker und Körperzusammensetzung exakt messen und haben genau definiert, in welchem Bereich die Messwerte liegen sollten. Bei „Routineuntersuchungen“ gibt uns der kompetent aussehende Arzt im weißen Kittel (Vorsicht: patriarchalisches Klischee) den Hinweis, dass wir bald so enden wie unsere Oma/Opa/Mutter/Vater, die/der an einem Herzinfarkt gestoben ist. Zumindest wenn wir so weitermachen. Dann wären wir selbst Schuld. Wir bekommen riesige Angst. Aber Gott sei Dank ist ja der kompetente Arzt im weißen Kittel da, um uns mit seinem erlösenden Ratschlag von allem Übel zu befreien: 

„Sie müssen dringend Gewicht abnehmen, um das Schlimmste zu verhindern. Hier ist die Adresse einer kompetenten Ernährungsberaterin (wer erkennt das darin liegende Klischee?).“

Die Trennung von Körper und Psyche

Bewusst habe ich in den letzten vier Absätzen versucht, ausschließlich die körperlichen Faktoren der Diätkultur zu berücksichtigen. Das ist natürlich im großen und ganzen Schwachsinn. Implizit wird jedoch oft so getan, als sei diese Trennung möglich oder sogar unausweichlich. Aber, wie das oben beschriebene Beispiel verdeutlichen soll, beginnen Diäten oder Ernährungsumstellungen mit psychologischen Faktoren; zum Beispiel der Angst vor gesundheitlichen Folgen, dem Wunsch nach höherem gesellschaftlichem Status oder schlichte Autoritätshörigkeit. Von allem Geplänkel befreit, bleibt die Forderung, dass die Psyche die niederen Bedürfnisse des Körpers zu überwinden hat. Ein tiefverankerter Glauben in unserer Diätkultur.

Psychologie der Diätkultur

Die Kontrolle des Geists über den Körper ist bereits seit Platon und Pythagoras ein angestrebtes (un-)menschliches Ziel (Vgl. KLOTTER, 2016). Dadurch haben Diäten eine unheimliche, fast mythische Anziehungskraft. Denn sie zeitigen nicht nur sichtbare Ergebnisse, sondern fühlen sich auch noch enorm befriedigend an. In den Zeiträumen, in denen die Diätwilligen auf ihr Zielgewicht hinarbeiten, kann sich ihr Leben geradezu rauschhaft anfühlen. Zum einen beweisen sie sich selbst und anderen, dass sie das ungeschriebene Gesetz der Selbstdisziplin befolgen. Zum anderen gleicht sich ihr Körper zunehmend dem mit dem Gesetz der Selbstdisziplin verbundenen Ideal an.

Alles in allem sind die Abnehmphasen von einem erhabenen und beflügelnden Gefühl von Fortschritt begleitet.

Essstörungen und Sucht

Der mehrfach zitierte Christoph Klotter beschreibt Essstörungen, wie die Anorexia nervosa, als nur geringfügig überzeichnete Idealerfüllung. In der Aussicht das Ideal nicht nur zu erreichen, sondern sogar zu übertreffen, steckt der Rausch mit drin. Die Befriedigung, die durch den Sieg des Geistes über den Körper erlebt wird, kann süchtig machen. In unserem, durch die Diätkultur bestimmten Diskurs wird ständig über „Gefahren durch falsche Ernährung“ gesprochen. Ganz hoch im Kurs ist aktuell das Thema „Zuckersucht“. Dabei sind schon die Muttermilch, ja sogar das Fruchtwasser süßlich. Wenn wir etwas zum Leben benötigen, können wir dann überhaupt von Sucht sprechen? Ich glaube das wir das durchaus können, wie ich in diesem Blogbeitrag darlege, aber: 

Das Besiegen der körperlichen Bedürfnisse durch den Geist kann zu einem viel größeren Übel, einer schlimmeren, zerstörerischeren Sucht werden und der Grat ist schmal.

Diätkultur und Sichtbarkeit

Rein phänomenologisch ist Dicksein deutlich auffälliger als Dünnsein. Essstörungen, bzw. deren psychologische Mechanismen bleiben oft lange unentdeckt. Beim Dicksein ist das anders. Die Diätkultur zeigt mit dem empörten Zeigefinger in Richtung der Dicken und mit dem lobenden Daumen in Richtung der hochgepriesenen Elite. Profisportler*innen, Medienprofis und andere Stars werden als Ideal definiert und tragen dieses zur Schau. Oftmals mit psychologischen Strategien, die auffällig an Essstörungen erinnern. Nach Außen wirken diese, das Ideal verkörpernden Personen jedoch als der Inbegriff von Glück und Erfolg.

What you see is all there is

Der Psychologe und Nobelpreisträger Daniel Kahneman hat einen kurzen Satz geprägt, der im Zusammenhang mit der Diätkultur höchst relevant ist: „What you See is all there is (WYSIATI)“. Der Satz beschreibt die Funktion unserer Psyche nur die Dinge zu erinnern, die wir über unsere eigenen Augen wahrnehmen. Für das Beispiel Profisport heißt das, dass wir die Topathleten nur dann sehen, wenn sie sich in der „besten“ körperlichen Form, mit dem niedrigsten Körperfettanteil befinden. Wie sie außerhalb dieses Zeitfensters aussehen, bleibt für die Zuschauer*innen meist verborgen. Abgesehen davon, dass Profisportler*innen und Instagram-Models keine repräsentative Bevölkerungsgruppen darstellen, laufen selbst sie nicht durchgängig in dieser körperlichen Verfassung herum.

Falsche Erwartungen & Diätkultur

Durch das WYSIATI-Probleme erinnern wir unbewusst diejenigen Körper, die in den Momenten gefilmt und fotografiert werden, in denen sie gezielt in Topform gebracht worden sind, als mehr oder weniger normal. Wir wissen zwar abstrakt, dass es unrealistisch ist GENAU so auszusehen, aber zumindest ähnlich sollten wir schon sein. Wir sehen nicht, dass sogar die Stars aus Medien und Sportwelt nicht immer so aussehen. Auch sehen wir nicht das Leid und die (essgestörten) Zwänge, die sich abseits der Kameras erstrecken. Durch WYSIATI werden wir immer und immer wieder in unserem Glauben daran bestärkt, dass Diäten funktionieren und das Problem bei denjenigen liegen müsse, die es nicht schaffen. 

WYSIATI vermittelt das Gefühl alleine zu scheitern, obwohl die Scheiternden eindeutig in der Überzahl sind. 

Diätkultur & Scheitern

Nach einer gewissen Zeit des Diäthaltens kommen Körper und Geist an der Grenze ihrer Leidensfähigkeit an. Fast jede*r Diäterfahrene kennt die deprimierende Endphase von Diäten, in denen um jedes weitere Gramm gekämpft werden muss. An diesem Punkt beginnt das Scheitern. Ohne den Rausch der fortschreitenden Gewichtsabnahme, erschöpft sich in bemerkenswerter Geschwindigkeit die Kapazität zur Selbstdisziplin. Die Quelle des Glaubens an den unendlichen Fortschritt versiegt. Was bleibt sind die allzu menschlichen Probleme, die bereits vor Beginn der Diät das Leben eingeschränkt haben.

Physische und psychische Langzeitentwicklung

Wenn alle Reserven der Selbstdisziplin erschöpft sind, der Körper kein Gramm Fett mehr hergibt und nach Wiedergutmachung lechzt, gibt auch der letzte Diätende auf (außer diejenigen, die eine Essstörung entwickeln). Es folgt ein Prozess, der mit dem Loslassen eines gespannten Gummibands zu vergleichen ist. Analog zum Gummiband befindet sich der Körper schnell wieder in der Ausgangsposition wieder, ist allerdings ausgeleierter. Nach der Diät wiegen viele Menschen mehr als vorher (MANN, T, et al., 2007). Zudem hat die physische Rückentwicklung zum alten Status Quo (oder darüber hinaus) oftmals negative psychische Entwicklung zur Folge.

Diätkultur und Scham

Eine, nach meinem Wissen bislang nicht untersuchte Korrelation zwischen Diäten und Scham wäre ratsam. Ich stelle hiermit die These auf, dass, je offensiver Diätende ihre anfänglichen Erfolge zur Schau stellen, desto stärker das Gefühl der Scham beim Scheitern eintritt. Es nicht geschafft zu haben obwohl man allen davon erzählt hat, ist schwer zu ertragen. Das unerträgliche Schamgefühl könnte dazu beitragen, dass diejenigen, die an ihren Diäten gescheitert sind deutlich leiser agieren, als diejenigen die ihre anfänglichen Erfolge zur Schau tragen. Die Scheiternden wagen es wahrscheinlich nicht, diejenigen anzuklagen, die ihnen die Diät ans Herz gelegt haben. Stattdessen könnten sie ein Gefühl der Unzulänglichkeit entwickeln, das von Diät zu Diät stärker wird.

Nutzen der Diätkultur

Kira Onysko, eine Anti-Diät-Trainerin bringt folgenden Vergleich: “Eine Fahrradfirma, die Fahrräder mit geplatzten Reifen verkauft, damit die Leute zurückkommen und ein neues kaufen, dürfte niemals im Geschäft bleiben, doch genau das passiert mit der Diätindustrie.” Betrachtet man die Diätkultur aus diesem Blickwinkel scheint es unglaublich, dass sich diätbezogene Produkte und Dienstleistungen noch immer verkaufen. Aber so einfach ist es nicht. Diäten bringen tatsächlich etwas. Sie schaffen neue Herausforderungen und motivieren die Kund*innen dazu, in den Phasen des Erfolgs lauthals und gratis Werbung für das jeweilige Diätverfahren zu machen. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass diese Taktik funktioniert.

Menschen eine Beschäftigungstherapie mit Selbstdisziplin zu verschreiben und sie glauben zu lassen, sie seien selbst das Problem wenn sie scheitern, ist eine teuflisch-geniale Geschäftsidee. 

Selbstdisziplin hinterfragen

Wie können wir als Individuen etwas dazu beitragen, dass sich die Diätkultur in der wir leben zu einer liebevolleren, empathischeren und sozialeren Kultur weiterentwickelt? Auf der einen Seite ist die Gegenbewegung zur Diätkultur automatisch im Kampf gegen Patriarchat, Diätindustrie und Diskriminierung engagiert. Dieser Kampf ist zweifelsohne wichtig und es ist schön, dass HAES, intuitives Essen und Body positivity als politische Bewegungen Zeichen setzen und immer lauter werden. Auf individueller Ebene kann es heißen, sich gegen Fatshaming und andere Formen der Grossophobie zur Wehr zu setzen. Aufzubegehren, die eigene (unbequeme) Meinung äußern, zivilen Ungehorsam zu leisten. Zu letzterem gehört in meinen Augen auch das aktive und alltägliche Hinterfragen der Maxime der Selbstdisziplin.

Individuelle Selbstdisziplin

Sich Ziele setzen zu können und diese trotz äußerer Widerstände zu verfolgen und zu erreichen, ist eine Fähigkeit. Eine Fähigkeit, die in unserer Kultur sehr hoch angesehen ist. Aber was ist mit der Fähigkeit loszulassen? Oder der, seine eigenen Grenzen zu akzeptieren? Wenn Selbstdisziplin zum Selbstzweck wird, haben wir ein Problem. Dann verheddern wir uns in der „Fähigkeit“ unser Selbst zu Dingen zu zwingen, die es nicht will. Das hat zur Folge, dass wir verlernen auf unsere Intuition zu hören und uns von dem entfremden, was der Psychoanalytiker Donald Winnicott als „Wahres Selbst“ bezeichnet hat.

Selbstdisziplin in der Diätkultur

In dem, komischerweise, zum Spiegel-Bestseller aufgestiegenen Buch „Die Macht der Disziplin – wie wir unseren Willen trainieren können“ (BAUMEISTER, R.F. & TIERNEY, J., 2012) werden im sechsten Kapitel Strategien besprochen, wie die eigene Disziplin zu trainieren sei. In diesem Rahmen werden Anekdoten des Extrem-Stuntmans David Blaine sowie Geschichten über religiöse Eiferer aus dem 19. Jahrhundert erzählt. Diese Extrembeispiel zeichnen ein Bild, in dem konsequente Selbstverpflichtung zu schier unmenschlichen Leistungen geführt haben soll. Was das Buch letztendlich schuldig bleibt, ist eine wirkliche Anleitungen, wie Normalsterbliche ihre Selbstdisziplin langfristig und nachhaltig trainieren können. 

Es legt lediglich nahe, dass die „Willensausdauer“ in Experimenten gesteigert werden könnte, wenn genug Motivation vorhanden sei.

Woher kommt die Motivation?

Nun, Motivation bekommt z.B. David Blaine, wenn er sich auf ein Experiment vorbereitet, in dem er öffentlich scheitern könnte. Oder Teilnehmer*innen an Studien zum Thema Willenskraft, wenn sie wissen das der nächste Untersuchungstermin ansteht. Oder Diätende, die gerade mit einer neuen Wunderkur begonnen haben und deren anfänglichen Erfolge in den sozialen Medien zur Schau tragen. „Jedem Anfang wohnt ein Zauber inne“ sagte schon der große Hermann Hesse. Aber sogar David Blaines Willenskraft hat Grenzen. Baumeister und Tierney berichten, dass Blaine teilweise 20 Kilogramm und mehr zunimmt zwischen seinen Experimenten. Also Weight-Cycling par excellence betreibt.

Diätkultur – Unterdrückung des Wahren Selbst

An dieser Stelle schließt sich der Kreis zum oben erwähnten Moment des Scheiterns im Diätbemühen. Denn den Zauber des Anfangs können wir nicht künstlich verlängern. Ein jeder motivierter Anfang endet und wird zur Routine. Gewohnheiten sind wichtig und in gesundheitsförderlichen Gewohnheiten liegt die Chance auf ein langes und gutes Leben. Die richtige Waage zwischen neuen Anfängen, festen Routinen und Spontaneität kann ein Ausdruck des Wahren Selbst sein. Aber wenn wir uns der Diätkultur völlig unterwerfen und den idealen Körper anstreben, bleibt kein Platz mehr für Spontaneität und neue Anfänge außerhalb von Diäten. 

Für das Ziel des idealen Körpers muss der Rest des Lebens und das Wahre Selbst unterworfen werden. 

Neues und Alltägliches

Damit wir ein gutes Leben führen können, müssen sich Neues und Alltägliches die Waage halten. Je nach dem Persönlichkeitsmerkmal der „Offenheit für neue Erfahrungen“ kann diese Waage von Mensch zu Mensch unterschiedlich austariert sein. Statt das Neue im qualvollen Diäthalten mit anschließendem Scheitern zu suchen, könnten wir unsere Energie in andere Aktivitäten und Bemühungen stecken. Was das sein könnte? Alles- vom Erlernen einer neuen Fähigkeit, über ein neues berufliches oder ehrenamtliches Projekt, bis hin zum Pflegen von Beziehungen mit Menschen, die einem am Herzen liegen. Oder einfach mal auf der Couch liegen und nichts tun. Eine unterschätzte Fähigkeit in unserer Kultur.

Frag doch einmal dein Wahres Selbst, was du tun oder nicht mehr tun würdest, wenn du deinen Körper so akzeptieren könntest, wie er ist? 

 

Quellen:

BAUMEISTER, R.F. & TIERNEY, J. (2012): Die Macht der Disziplin: Wie wir unseren Willen trainieren können

KLOTTER, C. (1990): Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem

KLOTTER, C. (2016) – Identitätsbildung über Essen, Ein Essay über „normale“ und alternative Esser

DAHLGREEN, G. & WHITEHEAD, M.: (1991): „Fonds Gesundes Österreich nach Dahlgren, G., Whitehead, M. (1991)“
FREIRE R. Scientific evidence of diets for weight loss: Different macronutrient composition, intermittent fasting, and popular diets. Nutrition. 2020 Jan;69:110549. doi: 10.1016/j.nut.2019.07.001. Epub 2019 Jul 4. PMID: 3152570

HURRELMANN, K./ RICHTER, M. (2018): Determinanten von Gesundheit. In: doi: 10.17623/BZGA:224-i008-1.0

KAHNEMAN, D. (2011): Thinking fast and slow

KUNTZ, B. et al. (2018): Soziale Unterschiede im Gesundheitsverhalten von Kindern und Jugendlichen in Deutschland – Querschnittsergebnisse aus KiGGS Welle 2
MANN T, TOMIYAMA AJ, WESTLING E, LEW AM, SAMUELS B, CHATMANN J. Medicare’s search for effective obesity treatments: diets are not the answer. Am Psychol. 2007 Apr;62(3):220-33. doi: 10.1037/0003-066X.62.3.220. PMID: 17469900.

METHFESSEL, B./ SCHLEGEL-MATTHIES, K. (2010): Ernährung und Diätetik. In: Hoefert, H-W./ Klotter, C. (Hrsg.): Gesunde Lebensführung – kritische Analyse eines populären Konzepts; Kapitel:

Internetquellen:

– https://www.duden.de/rechtschreibung/Diaet

– https://www.growthinktank.org/de/grossophobie-eine-diskriminierung-allgegenwaertige-und-gesellschaftlich-akzeptiert/