Dankbarkeit, Wertschätzung und Bewusstsein
Abendspaziergang: Eine persönliche Reflexion
Es war einer dieser lauen Abende, an denen der Wind milde durch die Baumwipfel streicht und die Welt kurz innehält. Mein Spaziergang führte mich wie so oft durch die vertrauten Wege der Eilenriede. Ich dachte darüber nach, ob ich mir gleich noch einen Nachtisch aus einem der vielen Supermärkte oder Kioske in meiner Gegend holen sollte, nachdem ich mein Abendbrot aus einem Restaurant auf der Lister Meile genüsslich verspeist hatte. Während ich ging, spürte ich eine eigentümliche Schwere in meinem Herzen – keine Traurigkeit, sondern eher eine nachdenkliche Tiefe gepaart mit Dankbarkeit. Mir wurde bewusst, wie selbstverständlich all das geworden ist: die Fülle an Lebensmitteln, die uns täglich zur Verfügung steht; das warme Wasser aus der Leitung; die Möglichkeit, abends spazieren zu gehen, ohne Angst vor Gewalt oder Hunger.
Wertschätzung in Zeiten des Überflusses
Wie oft vergessen wir, dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, sondern das Ergebnis jahrhundertelanger Entwicklungen, unzähliger Kämpfe und der leidvollen Erfahrungen ganzer Generationen? Noch unsere Großeltern litten unter Hunger, Krieg und Entbehrung – und doch erscheinen uns diese Zeiten heute seltsam weit entfernt. Wir leben in einer Zeit des Überflusses. Noch nie zuvor in der Menschheitsgeschichte war Nahrung so vielfältig, so leicht verfügbar und so sicher wie heute – zumindest in weiten Teilen der westlichen Welt. Und gerade weil alles immer da ist, verschwimmt unser Bewusstsein für den Wert dieser Dinge.
Was gestern noch ein Luxus war, ist heute der neue Standard. Ein Avocado-Brot, Bio-Kaffee aus Äthiopien, Mangos im Winter – wir konsumieren, als wäre die Welt ein Selbstbedienungsladen. Dabei verlieren wir die Verbindung zu dem, was uns nährt – nicht nur körperlich, sondern auch seelisch.
Die offene Gesellschaft in Gefahr
Diese fehlende Wertschätzung reicht jedoch weit über den Frühstücksteller hinaus. Sie bedroht, was Karl Popper in seinem Werk „Die offene Gesellschaft und ihre Feinde“ so eindringlich verteidigte: eine Gesellschaftsform, die auf Freiheit, Pluralismus und kritischer Reflexion beruht. Wenn wir vergessen, wie zerbrechlich diese Ordnung ist, laufen wir Gefahr, sie zu verspielen. In vielen Ländern – auch in Europa – erleben wir eine beunruhigende Rückkehr zu autoritären Tendenzen. Populisten, die einfache Antworten auf komplexe Fragen liefern, finden Gehör bei Menschen, die sich überfordert fühlen in einer globalisierten Welt. Und so wählen wir – geblendet von Versprechen und getrieben von Angst – narzisstische Führer, die vorgeben, unser Leid zu lindern, während sie in Wahrheit das Fundament untergraben, auf dem unsere Gesellschaft ruht: Freiheit, Menschenwürde, Solidarität.
Was wir zu verlieren haben
Was passiert, wenn diese offene Gesellschaft zerfällt? Stellen wir uns vor, wie schnell sich unser Alltag verändern könnte: Leere Supermarktregale. Stromausfälle. Informationskontrolle. Und der Hunger – dieser große Gleichmacher, der Menschen auf das bloße Überleben reduziert. In solchen Momenten zeigt sich, wie dünn die Schicht der Zivilisation ist, wie viel Tier sich noch immer in uns angeblich so fortschrittlichen Menschen befindet. Wir reden gerne von Werten – aber wie tragfähig sind diese, wenn der Magen knurrt? Wie schnell wird aus Nachbarschaft ein Konkurrenzkampf, aus Vertrauen Misstrauen?
Dankbarkeit ist keine Illusion
Dankbarkeit heißt nicht, sich die Welt schönzureden. Es bedeutet nicht, Probleme zu ignorieren oder naiv auf das Gute zu hoffen. Ganz im Gegenteil: Wahre Dankbarkeit beginnt mit Klarheit. Sie nimmt die Realität an – mit all ihren Brüchen – und sieht dennoch das Gute. Sie erkennt die Komplexität der Welt an und verzichtet auf einfache Erklärungen. Sie gesteht ein, dass wir vieles nicht wissen – und dass andere es auch nicht wissen. Diese Demut ist keine Schwäche, sondern die Voraussetzung für echte Verbundenheit und Solidarität. Wer dankbar ist, sucht nicht nach Schuldigen, sondern nach Wegen. Wer wertschätzt, was da ist, wird nicht blind für das, was fehlt – sondern bereit, Verantwortung zu übernehmen.
Ein stiller Appell an uns alle
Vielleicht ist es Zeit, innezuhalten. Uns bewusst zu machen, wie gut es uns – bei allen Problemen – tatsächlich geht. Nicht, um Schuld zu empfinden angesichts des Leids anderer, sondern um den Auftrag zu erkennen, der darin liegt. Denn unsere Aufgabe ist es nicht, uns schlecht zu fühlen. Davon geht es niemandem besser. Es geht auch nicht darum, uns klein zu machen, obwohl wir das in vielerlei Hinsicht sind. Unsere Aufgaben bestehen darin, zu lieben, unsere Privilegien zu genießen und unsere Talente, unsere Möglichkeiten und unsere Freiheit zu nutzen, um die Welt ein kleines bisschen besser zu hinterlassen, als wir sie vorgefunden haben.
Dankbarkeit, Wertschätzung und Achtsamkeit sind dabei keine weichgespülten Begriffe, sondern radikale Haltungen – Haltungen, die unsere offene Gesellschaft erhalten können.