Lebenskunst - Elefantenreiten in 7 Schritten

Lebenskunst – Elefantenreiten in 7 Schritten

Oftmals sind wir so in unserem Alltag gefangen, dass es schwer fällt, uns mit der Vergangenheit zu beschäftigen. Aber wer sich selbst besser verstehen möchte, kommt nicht darum herum. Denn die Entstehungsgeschichte unserer Gehirne und damit unserer Spezies prägt unser Denken und Fühlen noch heute. Um also das eigene Verhalten in modernen, hochtechnisierten Zeiten zu verstehen und in gewissem Maße zu modulieren, müssen wir auch begreifen wieso es so geworden ist, wie es ist. Die Überlegungen im hier vorliegenden Essay beschäftigen sich mit der Frage nach dem (individuell) guten Leben – es geht um Lebenskunst. Auch im Audioformaten verfügbar.

Lebenskunst – Vom Elefantenreiten: Einleitung

Mit der Idee zu diesem Essay gehe ich bereits seit einigen Jahren schwanger. Allerdings fiel es mir bislang schwer, die damit zusammenhängenden Gedanken verständlich und kohärent auszuformulieren. Denn das, was ich mit dem Schreiben dieses Essays versuche, ist eine Melange aus Neurowissenschaft, Verhaltenspsychologie, Philosophie, Kulturwissenschaft und Anthropologie. Das avisierte Themenfeld scheint also auf den ersten Blick relativ weit von meinem Studienfach der Ökotrophologie entfernt zu liegen.

Am Ende möchte ich ein anschauliches Modell davon liefern, was ich als Lebenskunst verstehe und was jede*r Einzelne tun kann, um besser mit sich selbst umzugehen. Im gewissen Maße ist der Essay in seinem Kern also doch höchst ökotrophologisch.

In Metaphern denken

Wenn es darum geht, das menschliche Denken zu verstehen, stehen wir stets vor dem Dilemma gleichzeitig Objekt der Beobachtung und beobachtendes Subjekt zu sein. Philosoph*innen wie Psycholog*innen stimmen größtenteils darin überein, dass es unmöglich ist, etwas objektiv zu verstehen, was man selber ist. Die beste Möglichkeit mit diesem Dilemma umzugehen, besteht nach meiner Einschätzung darin, in Metaphern und Bildern zu denken. Die daraus entstehenden Modelle sind zwar kein objektives Abbild der Realität, können diese aber immerhin näherungsweise beschreiben.

Grenzen der Empathie

Ein weiteres Grundproblem besteht darin, dass es unmöglich ist, sich in Menschen hineinzuversetzen, die in anderen Lebensumständen leben oder gelebt haben. Der Philosoph Emmanuel Lévinas meint sogar, dass es generell unmöglich sei, einen anderen Menschen wirklich zu begreifen (LÉVINAS, E., 2002). Wenn wir über vergangene Epochen sprechen, kommt die Schwierigkeit hinzu, dass das Denken dieser Menschen sich im Rahmen ihrer jeweiligen Kultur und Lebensrealität entwickelt hat. 

Wie soll man also verstehen, was in einem Menschen vor 200, 500, 1000 oder sogar 10.000 Jahren vorgegangen ist?

Grundsätzliches Vorgehen

Aufgrund der beschriebenen mangelhaften Möglichkeiten, menschliches Denken und Verhalten zu verstehen, scheint es mir notwendig, dass wir uns einerseits in sehr spezifischer Weise auf das menschliche Denken einstellen. Andererseits aber relativ allgemein vorgehen: Spezifisch in der Betrachtung des Denkens im westlichen Kulturkreis. Allgemein im Sinne der Funktionsweise und Entstehungsgeschichte des menschlichen Gehirns. Denn obwohl wir alle dieselbe Herkunft teilen, sind die Verknüpfungen von Neuronen und Synapsen kulturell und individuell höchst unterschiedlich.

Lebenskunst

Bleibt in der Einleitung nur noch auf den Begriff der Lebenskunst einzugehen. In meinen Augen ist Lebenskunst ein Begriff, der sich ausschließlich im Wohlstand anbietet. In historischen Mangelsituationen und im Krieg ist das Leben vom Kampf ums Überleben geprägt und lässt damit keine Lebenskunst im hier bezeichneten Sinne zu. Damit will ich nicht sagen, dass es nicht auch schöne Momente in Zeiten von Mangel, Hunger und Krieg geben kann. Aber diese werden meiner Meinung nach durch instabile äußere Umstände nur punktuell möglich und sind kaum planbar.

Selbstverständlich könnte man Lebenskunst auch als Überlebenskunst definieren, aber ich beziehe mich hier auf die Fähigkeit ein Leben in Frieden und relativem Wohlstand gut zu gestalten.

Lebenskunst – Vom Elefantenreiten

Bevor ich näher auf die etwas hanybalisch anmutende Elefantenreiter-Metapher eingehe, möchte ich den Begriff der Lebenskunst noch etwas näher behandeln. Um Lebenskunst in dem von mir definierten Sinne praktizieren zu können, müssen die äußeren Lebensumstände relativ stabil sein. Wie die sprichwörtliche Eichel, in der die ausgewachsene Eiche bereits angelegt ist, benötigen auch wir Menschen einen Nährboden, der unsere Grundbedürfnisse befriedigt, um unsere Wachstumspotenziale entfalten zu können. Erst mit befriedigten Grundbedürfnissen können wir lebenskünstlerisch aktiv werden (MASLOW, A. H., 1968/1973 dt. Ausgabe).

Der richtige Nährboden

Nun gibt es tatsächlich Menschen, die auch noch aus dem fruchtbarsten Nährboden die nährstoffärmsten Steine heraus sieben können. Diese Kunst des Unglücklichseins wurde von Paul Watzlawick bereits humoristisch ausgearbeitet und bedarf keiner Ergänzung. Die Fähigkeit nährstoffreiche Böden von karger Einöde unterscheiden zu können, ist bereits eine obligatorische Grundfähigkeit für das aktive Praktizieren von Lebenskunst. 

Eine umfangreiche Liste derjenigen Fähigkeiten und Lebensumstände, die dem guten Leben Nährboden geben, hat die Philosophin Martha Nussbaum anschaulich herausgearbeitet (NUSSBAUM, M. C., 1998).

Glück vs. Lebenskunst

Weiterhin sollte vom Begriff der Lebenskunst der des Glücks unterschieden werden. Das ominöse Glück als erstrebenswertes Gut zu betrachten, macht Lebenskunst unmöglich. Denn zur Lebenskunst gehören alle Emotionen des menschlichen Gefühlsspektrums. Darüberhinaus ist die Glückswissenschaft zu dem kontraintuitiven Schluss gelangt, dass die Jagd nach dem Glück, dem Glück abträglich ist (HAIDT, J., 2006/2018 6. Auflage). Also ist Glück nicht das Ziel der Lebenskunst, sondern wenn überhaupt dessen süße Frucht, die ab und zu genossen werden kann. 

Voraussetzungen nutzen

Im folgenden werde ich davon ausgehen, dass meine werten Leser*innen die grundsätzlichen Voraussetzungen zur Lebenskunst besitzen. Nach meinem Verständnis gibt es zwar noch immer eine große Anzahl von Menschen auf der Welt, die diese Grundvoraussetzungen nicht haben. Aber allzu oft werden die Angst vor dem Scheitern oder der Stress, der zu jedem (künstlerischen) Streben dazugehört, als Entschuldigungen genutzt um gar nicht erst zu versuchen aus dem eigenen Leben das zu machen, was man oder frau sich wünscht.

Zugang zu den eigenen Gefühlen

An diesem Punkt des Essays kommen wir zu dem Punkt, an dem Lebenskunst und Elefantenreiten erstmals in einen Bezug zueinander gesetzt werden. Die Hauptaufgabe der folgenden Kapitel wird es sein, diesen Bezug deutlich zu machen. Allgemein kann dieser Punkt in einem Zugang zu den eigenen Gefühlen beschrieben werden. Denn die eigenen Emotionen (wie Angst, Wut, Traurigkeit, Neugier, Ekel, Überraschung und auch Freude) wahrhaft fühlen zu lernen und einen angemessenen Umgang damit zu entwickeln, ist neben dem richtigen (äußeren) Nährboden die zweite (innere) Grundbedingung für Lebenskunst.

Elefant und Reiter

Kommen wir nun also auf Elefant und Reiter zu sprechen. Die Metapher habe ich von Jonathan Haidt entliehen, der sie nutzt um moralphilosophische Zusammenhänge in unserem Denken und Fühlen zu verdeutlichen. Der Grundgedanke ist, dass sowohl Elefant als auch Reiter ein Teil von uns sind. Das mag auf den ersten Blick ein wenig abstrus erscheinen. Denn ein Elefant als Haustier wäre einem ja wohl kaum das ganze Leben entgangen, oder?

Lebenskunst – die eigenen Anteile verstehen

Betrachten wir Elefant und Reiter jedoch als mentale Repräsentation wird ein Schuh draus. Dass wir den Elefanten oftmals nicht bemerken, liegt daran, dass dieser Anteil diejenigen Gehirnanteile repräsentiert, die evolutionär vor unserem Sprachzentrum entstanden sind. Vom Aufbau des menschlichen Gehirns her, hat sich der sogenannte präfrontale Kortex, der unser Sprachzentrum beinhaltet, als letztes entwickelt und sitzt daher in unserem Kopf weit vorne und oben (BEAR, M.F.; CONNORS, B.W.; PARADISO, M.A., 2009/ 2018 4. Auflage). 

Hinter der Stirn, zwischen und über den Augen befindet sich der Teil des Gehirns, den wir zum logischen Denken, sprechen und planen nutzen.

Aufklärung und rationaler Bullshit

Mit anderen Worten: Menschen waren nicht immer so rational, abwägend und klug wie wir denken. Als sich vor gut 200 Jahren die aufklärerischen Ideale in Europa durchsetzten, wurde rationales Denken schlagartig zum A und O. Allerdings ist dieses Ideal der Aufklärung gar nicht so neu. Auch in der griechisch-römischen Antike wurde die Vernunft bereits vergöttert. Diese Epochen haben noch heute starke Auswirkungen auf unser Denken, das System in dem wir leben und die Ideale, die darin verkörpert werden (HEIT, H., 2006). Kurz gesagt, neigen wir dadurch dazu, uns mit unseren rational-logischen Anteilen zu identifizieren. 

Der logische Reiter

Der Anteil, der in der Antike und seit der Aufklärung idealisiert wurde/wird, ist der Reiter in unserer Metapher. Wenn wir über uns selbst sprechen, meinen wir meistens diesen Anteil von uns. Währenddessen ist der Reiter in den moralphilosophischen Überlegungen Haidts nur ein Staatssekretär oder Anwalt, der die Entscheidungen des Elefanten rechtfertigt. Das ist erstmal ziemlich schockierend. Denn wer möchte sich schon eingestehen, dass der Anteil mit dem man sich identifiziert eigentlich nicht viel zu entscheiden hat?

Wer nun rationale Argumente findet, um das Gelesene abzulehnen, ist jetzt übrigens vom Elefanten beeinflusst, der sich emotional angegriffen fühlt. 

Der emotionale Elefant

Nun haben wir den Reiter kennengelernt. Aber wer oder was ist jetzt dieser ominöse Elefant? Der Elefant in dieser Metapher repräsentiert diejenigen Anteile unserer Gehirne, die vor der Entwicklung unseres rationalen Denkens da waren. Also unsere emotionalen Gehirnzentren (teilweise auch als limbisches System bezeichnet) und unser Reptiliengehirn. Letzteres hat lediglich vier Funktionen, die als „fight, flight, freeze, sex“ (kämpfen, fliehen, erstarren, Sex) bezeichnet werden (BEAR, M.F.; CONNORS, B.W.; PARADISO, M.A., 2009/ 2018 4. Auflage). Vier Funktionen – weil fressen auch ohne Gehirn funktioniert.

Unser uraltes Gehirn

Die emotionalen Anteile unserer Gehirne teilen wir uns mit anderen Säugetieren und insbesondere mit unseren nächsten Verwandten, den Schimpansen und Bonobos. Um die zeitlichen Dimensionen verständlich zu machen: Der letzte gemeinsame Vorfahre mit unseren nächsten Verwandten im Tierreich lebte vor ca. 6 Millionen Jahren. Das Reptiliengehirn stammt von noch älteren Vorfahren. Hier sprechen wir von hunderten Millionen Jahren (BEAR, M.F.; CONNORS, B.W.; PARADISO, M.A., 2009/ 2018 4. Auflage). Beide Anteile haben jedoch nach wie vor einen großen Einfluss auf unser Denken, Verhalten und Leben. 

Homo Sapiens, Sprache und Lebenskunst

Der Homo sapiens sapiens, der weise, weise Mensch, wie wir uns in aller Bescheidenheit genannt haben, existiert erst seit ca. 200.000 Jahren. Wann sich die Sprache genau entwickelt hat, ist der heutigen Wissenschaft ein Rätsel. Die Schätzungen schwanken zwischen 100.000 und 500.000 Jahren (HARARI, Y.N., 2011/2015 21. Auflage). Eine lange Zeit. Aber im Vergleich zu sechs Millionen oder sogar hunderten Millionen Jahren Evolutionsgeschichte immer noch vergleichsweise kurz. Schauen wir uns im Vergleich an, wie kurz der Zeitraum ist, indem bewusst über psychologische Zusammenhänge nachgedacht und geforscht wird, müssen wir verstehen, dass unsere Bemühungen noch relativ am Anfang stehen.

Lebenskunst und Freud

Sigmund Freud, der das Unbewusste zum Forschungsobjekt gemacht hat, bezeichnete unsere kreatürlichen Anteile als „Es“. Mit der Triade von „Es“, „Ich“ und „Über-Ich“ hat er zweifelsohne einen wichtigen Beitrag zum Verständnis der menschlichen Psyche geleistet (FREUD, S., 1923). Freud hatte zu Beginn des 20. Jahrhunderts eine ganze Reihe spannender Denkansätze und Theorien, die in vielerlei Hinsicht noch heute Einfluss und/oder Bestand haben. Freud war ein Pionier, Provokateur und brillanter Denker (Vgl. KLOTTER, K. 2022). Einiges wurde seitdem weiter ausformuliert, manches widerlegt, über vieles gestritten.

Obwohl Freud für viele seiner (teilweise chauvinistischen) Ansichten heute kritisiert wird, bleibt festzuhalten, dass wir durch ihn eine Menge über die Psyche des modernen Menschen gelernt haben.

Der Elefant ist mehr als das „Es“

Freud dachte an einigen Stellen ähnlich wie Platon. Beide bewerteten die kreatürlichen menschlichen Anteile als krumm, hinderlich und in freudschen Formulierung als triebgesteuert. Ich persönlich finde es wichtig, die im „Es“ zusammengefassten Triebe nicht nur als negative, dunkle Kräfte anzusehen. In meinen Augen gehört zur angewandten Lebenskunst, alle Anteile des eigenen Selbst zu akzeptieren und ggfs. zu nutzen, anstatt lediglich die logisch-vernünftigen Anteile zu glorifizieren und die weniger (be)greifbaren zu umstellen zu versuchen. 

Jonathan Haidt, dem ich mich hier anschließe, versteht unter dem Elefanten weit mehr als nur dir „dunklen“ menschlichen Triebkräfte, die es zweifellos ebenfalls gibt.

Was meinte Freud genau?

Freud war der Meinung, dass für die Entstehung von Kulturleistungen die Unterdrückung von Trieben notwendig sei. Er nannte dies Sublimation. Aggressive Triebe solle man laut Freud, anstatt sie auszuleben, in Produktivleistungen übersetzen. Also verallgemeinert in Arbeit. Ich frage mich hier, was Freud genau gemeint hat. Dass man seine aggressiven Impulse weder blind ausleben noch verdrängen sollte, finde ich ebenfalls. Aber was bedeutet es, seine Triebe in Kulturleistungen zu sublimieren? Heißt es lediglich Bücher schreiben, produktiv zu arbeiten, etwas Äußerliches zu erschaffen? Oder heißt es auch, die Auslöser des jeweiligen Triebs (z.B. Aggression) emotional nachzuvollziehen und auf dieser Grundlage zu entscheiden, wie man/frau damit umgehen möchte. Durch diese innere Kommunikationsarbeit (auch diese ließe sich als Kulturleistung interpretieren) können Reiter und Elefant voneinander lernen und so gemeinsam neue Fertigkeiten entwickeln.

So kann ich dann beispielsweise entscheiden, einen Konflikt mit meiner Frau zu klären und meine Aggression konstruktiv zum Ausdruck bringen, anstatt den Konflikt ungeklärt zu lassen und mich in Arbeit zu flüchten.

Gefühle und Sprache

Es deutet sich an dieser Stelle der Kern dieses Essays an: Die Hürde vor dem guten Leben, die Lebenskunst notwendig macht, ist nach meiner Auffassung die Kommunikation zwischen Reiter und Elefant. Freud hat dies angedeutet: Das „Ich“ hat die Aufgabe zwischen „Es“ und „Über-Ich“ zu vermitteln. Der Unterschied zwischen dem freudschen und meinem Denken liegt in diesem Punkte darin, dass ich nicht davon ausgehe, dass die Triebe umstellt werden sollten. Ich schließe mich Freud in der Hinsicht an, dass wir lernen sollten uns selbst besser zu verstehen. Eine Aufgabe, die wahrscheinlich erst mit dem Tod endet. Gleichzeitig sollten wir uns (unserem Elefanten) darin vertrauen, dass unsere Triebe einen Grund haben, den wir zu verstehen versuchen können. 

Elefant und Reiter sprechen schlichtweg nicht die selbe Sprache. Während der Elefant mit Emotionen und Intuition spricht, kommuniziert der Reiter mit Deutsch, Englisch, Französisch oder anderen gesprochenen Sprachen.

Lebenskunst ist Dolmetschen

Um ein authentisches menschliches Leben zu führen, ist es notwendig uns zum Ausdruck zu bringen. Diesen authentischen Ausdruck bewundern wir an Kunstwerken jeder Art. Dieser Essay betrachtet das gesamte Leben als Kunstform. Zumindest im Wohlstand und in individualistischen Gesellschaften. Dementsprechend gehört zur Lebenskunst der authentische Ausdruck des gesamten Seins. Wenn sich lediglich der Reiter ausdrückt, erscheint uns dieser Ausdruck als hölzern und oberflächlich. Zu echter Kunst gehört es, dass sich der ganze Mensch, also Elefant und Reiter in ihrer Ganzheit zum Ausdruck bringen. 

Diätkultur als Sprachbarriere

Mir erschließt sich nicht vollständig, wieso unsere Kultur immer neue Barrieren zwischen Elefant und Reiter errichtet. Was zu Zeiten Freuds die Sexualität war, ist heute das Essen (KLOTTER, C., 2011). Wahrscheinlich ist es die kulturelle Angst vor dem, was viele Menschen, die sich wahrhaft zum Ausdruck brächten, anrichten könnten. Teilweise steckt sicherlich auch das Interesse dahinter, die bestehenden gesellschaftlichen Hierarchien zu erhalten. Im großen und ganzen liegt der Grund für die Barrieren wohl darin, dass wir den Menschen in seinem echten Ausdruck (unbewusst) für böse halten. Es ist vermutlich die Furcht vor dem Bösartigen, Kreatürlichen im Menschen, die diese kulturellen Sprachbarrieren zwischen Elefant und Reiter errichtet und aufrecht erhält.

Diätkultur vs. Lebenskunst

Schlankheitswahn und Diätkultur untergraben systematisch die Kommunikation zwischen Reiter und Elefant. Diäten sind wie scharfe Messer in den Händen des Reiters, die er seinem eigenen Elefanten in brutaler Manier hinterrücks ins Fleisch rammt, um diesem seinen eigenen Willen aufzuzwingen. Mit dieser rücksichtslosen Beherrschung der eigenen unbewussten Anteile versucht der Reiter den eigenen Körper dem Ideal der Gesellschaft anzupassen, die ihn produziert hat. Im gewissen Maße erwartet unsere Gesellschaft diese Beherrschung und erzwingt damit ein grausames Verhalten dem individuellen Selbst gegenüber. 

Lebenskunst hat also auch mit dem Finden von gesellschaftlichen Nischen zu tun, in dem der Elefant als Partner statt als zu unterwerfendes Objekt behandelt werden kann.

Der mächtige Elefant

Die Anteile unseres Seins, die sich um Gefühle und Intuition drehen, sind älter und wirkmächtiger als unser junges logisches Denken. Oftmals findet der Elefant Möglichkeiten, die Regeln des Reiters zu unterwandern- und schwups hat man die Schokolade gegessen, bevor man sich darüber bewusst geworden ist. Auch hier hilft die Elefanten-Reiter-Metapher beim Verstehen. Denn im direkten Duell verliert jeder Reiter gegen einen kräftigen Elefanten. Und selbst falls Menschen individuell oder kollektiv Möglichkeiten fänden, den Elefanten vollständig zu unterwerfen, wäre damit nichts gewonnen. Stattdessen hätten wir einen Großteil dessen, was uns menschlich macht, ausgelöscht. 

Jo-Jo-Effekt und Essstörung

In den meisten Fällen gewinnt der Elefant den inneren Kampf immer und immer wieder, was zu Jo-Jo-Effekt und langfristig steigendem Körpergewicht führt. Aber in weniger oft vorkommenden Fällen gewinnt bereits in der Adoleszenz der Reiter bzw. oft die Reiterin. Dann manifestieren sich Essstörungen, wie Anorexie und Bulimie, die dem Elefanten nachhaltig oder immer wieder den Willen des Reiters aufzwingen. 

Anhand dieser beiden Beispiele, Jo-Jo-Effekt und Essstörungen lässt sich skizzieren, wie die Diätkultur systematisch für eine gestörte innere Kommunikation sorgt, die die Lust am Leben zerstört.

Ernährungstherapie & Frieden finden

Im gewissen Maße sind alle Formen von Therapie darauf ausgerichtet, die Kommunikation zwischen Elefant und Reiter zu stärken. Bei der Ernährungstherapie geht es in diesem Prozess hauptsächlich um den Teilbereich der Diätkultur. Den Zugang zu den eigenen Bedürfnissen wieder zu entdecken, ist teilweise ein langer und schmerzvoller Weg. Aber es gibt Hoffnungsschimmer am Horizont. Trends wie Intuitives Essen und Body Positive wecken das Interesse vieler Menschen, die die Nase voll haben von den diktatorischen Maximen der Diätkultur.

Respekt und Pluralismus

Für mich ist es schwer nachvollziehbar, wie man es für richtig halten kann, andere Menschen aufgrund von Eigenschaften zu kritisieren, die sie sich nicht selbst ausgesucht haben. Betrachten wir die neurowissenschaftlichen Erkenntnisse aus der Hirnforschung und Psychologie ist es sogar unberechtigt, Menschen für jegliche ihrer Entscheidungen moralisch zu kritisieren. Aus dieser Überlegung heraus sollten sogar Mörder und Vergewaltiger nicht als Vollzug einer (negativen) Strafe, sondern lediglich zum Schutz der restlichen Gesellschaft eingesperrt werden. 

Das mag vielen Menschen zu weit gehen, aber in seinem Buch „Im Grunde gut“ beschreibt Rudger Bregman, wie skandinavische Gefängnisse in diesem Geiste, Verbrecher sozial behandeln, auf diese Weise erfolgreich resozialisieren und parallel für die Gesellschaft erhebliche Kosten einsparen (BREGMAN, R. 2021).

Essen ist kein Mord

Zurück zum Essen. Es liegt für zu logischem Denken fähige Personen auf der Hand, dass (zu viel) zu essen oder einen dicken Körper zu haben nicht mit Mord gleichgesetzt werden kann. Über die Maßen zu essen, ist nichts Schlimmes oder Verwerfliches. Darüberhinaus haben Menschen, wie gerade beschrieben, sehr gute Gründe für ihr Verhalten. Also sollten wir die angeblichen Essens-Sünder in unserer Gesellschaft frei sprechen von der Last ihrer Laster. Wenn wir das tun, wird unsere Gesellschaft automatisch um einiges freier- sowohl für die Menschen als auch von Diskriminierung.

Lebenskunst & kritisches Reflektieren

Zur angewandten Lebenskunst gehört es daher auch, die bestehenden Verhältnisse in unserer Gesellschaft kritisch zu hinterfragen. So können wir zu dem Schluss gelangen, dass es einerseits ein großes Privileg ist, in unserer Wohlstandsgesellschaft zu leben, dass aber andererseits auch Missstände existieren, an denen wir etwas ändern können. Kritisches Reflektieren hilft dabei, sich zufrieden zu geben mit dem Körper, den man oder frau hat, weniger perfektionistisch und stattdessen dankbarer zu sein, für das was ist. 

Zusammengefasst kann kritisches, aber wertschätzendes Reflektieren zu Gelassenheit und Lebensfreude beitragen.

Gelassenheit ist ein guter Pinsel

Gelassenheit ist nicht nur ein Garant für momentanes Wohlbefinden. Sie schafft auch die Grundlage dafür auf seine innere Stimme zu hören, kreativ zu werden und das Kunstwerk des eigenen Lebens nach den eigenen Vorstellungen zu gestalten. Gelassenheit ist also ein hervorragender Pinsel, Stift oder Meißel und dabei deutlich mehr als nur ein Werkzeug. Wenn wir mit Gelassenheit zur Kenntnis nehmen, wie es im aktuellen Augenblick ist, können wir Dankbarkeit mit dem Wunsch nach positiv gestalteter Veränderung kombinieren – eine tolle Farbe um individuelle Lebenskunst zu gestalten.

Lebenskunst: zusammengefasst

Also, wie lässt sich das in diesem Essay gezeichnete Bild von Lebenskunst angemessen resümieren? Letztendlich kann das hier Geschriebene in 7 Grundregeln oder Schritten zusammengefasst werden: 

  1. Benötigen wir bestimmte Grundbedingungen, die ich als Nährboden beschrieben habe (Buchtipp an dieser Stelle: „Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Genderstudies“ von Martha C. Nussbaum).
  2. Braucht jeder Mensch, der das Glück hat im Wohlstand zu leben, die Bereitschaft diese bevorzugten Grundbedingungen auch wertzuschätzen.  
  3. Darauf aufbauend wird der Mut benötigt, diese Voraussetzungen dafür zu nutzen, um das eigene Leben kunstfertig zu gestalten.

Lebenskunst und Gefühle

  1. Statt der Jagd nach durchgängig „positiven“ Gefühlen müssen Lebenskünstler*innen dazu bereit sein, das gesamte Spektrum ihrer Gefühlswelt zu durchleben und auch die „negativen“ Gefühle als essenzielle Bestandteile des guten Lebens anzuerkennen.
  2. Darüberhinaus ist es notwendig das anzuerkennen, was Freud mit dem bekannten Satz „Wir sind nicht Herr im eigenen Haus“ ausgedrückt hat. Unsere rationalen, vernünftigen Anteile sind nur ein kleiner Teil von uns und haben wenig Macht im Hinblick auf unsere Entscheidungen.
  3. Lebenskünstler*innen sollten jedoch über Freuds Satz hinausgehen. Wir sind zwar nicht Herr im eigenen Haus, aber Macht und Kontrolle verlieren an Wichtigkeit, wenn alle Anteile in unserem Inneren in gemeinschaftlicher Kooperation zusammen leben. 

Es lässt sich in der oben ausgeführten Metapher so ausdrücken: Wenn Elefant und Reiter kooperieren, sitzt der Reiter bequem auf dem Rücken des Elefanten und kann weiter (in die Zukunft) schauen. Gemeinsam sind unsere logischen und emotionalen Anteile ein großartiges Team.

Lebenskunst und Gemeinschaft

Der letzte der sieben Punkte ist so entscheidend, dass er einen eigenen und dazu den letzten Abschnitt dieses Essays verdient. Denn wir leben in einer Gesellschaft zusammen und diese funktioniert letztlich nur über vertrauensvolle, wertschätzende und soziale Beziehungsgeflechte. 

  1. Lebenskunst ist abzugrenzen vom egozentrischen Begriff der „Selbstverwirklichung“. Sich selbst zu verwirklichen kann nur im Rahmen einer funktionierenden Gemeinschaft gelingen, weswegen ein Teil dieser Selbstverwirklichung einem ethischen, gemeinschaftlichen Leben untergeordnet werden muss, um wirklich Lebenskunst zu sein. Als guter Ausgleich zur Selbstverwirklichung können beispielsweise die aristotelischen Tugenden dienen. 

Quellen:

BEAR, M.F., CONNORS, B.W.; PARADISO, M.A. (2009/2018): Neurowissenschaften: Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie; 4. Auflage

BREGMAN, R. (2021): Im Grunde gut – Eine neue Geschichte der Menschheit

FREUD, S. (1923): Das Ich und das Es

HAIDT, J. (2006/2018): Die Glückshypothese: Was uns wirklich glücklich macht – Die Quintessenz aus altem Wissen und moderner Glücksforschung; 6. Auflage

HARARI, Y.N. (2011/2015): Eine kurze Geschichte der Menschheit; 21. Auflage

HEIT, H. (2006): Der Ursprungsmythos der Vernunft – Zur Genealogie der griechischen Philosophie als Abgrenzung vom Mythos

KLOTTER, C. (2011): Gesunde Lebensführung – kritische Analyse eines populären Konzepts: Kapitel: Gesundheitswahn und Gesundheitszwänge

KLOTTER, C. (2022): Die Rätsel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie

LÉVINAS, E. (2002): Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität

MASLOW, A. H. (1968): Psychologie des Seins; 1973 dt. Ausgabe

NUSSBAUM, M. C. (1998): Gerechtigkeit oder Das gute Leben. Genderstudies