Intuitives_Essen - Mehr als nur ein Trend?

Intuitives Essen – Mehr als nur ein Trend?

Intuitives Essen

Intuitives Essen liegt total im Trend. In großer Aufregung, mit viel Begeisterung und Engagement werden „Die 10 Prinzipien des intuitiven Essens“ gefeiert. Diäten, damit verbundene Zwänge und Regeln werden kritisiert und größtenteils abgelehnt. Die Verfechter*innen des intuitiven Essens schreiben sich auf die Fahnen einen anderen Umgang mit Essen und Körpern zu etablieren. Es versprüht einen Hauch von Revolution. Was hat es mit dem Trend zum intuitiven Essen genau auf sich? Was sagt die wissenschaftliche Evidenz? Und was denkst du, ist intuitives Essen mehr als nur ein Trend?

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1 Intuitives Essen

Intuitives Essen als Trend

Das intuitive Essen (kurz IE) liegt, insbesondere in den sozialen Medien, total im Trend. Bei solchen Tendenzen besteht die Gefahr, dass sich Filterblasen bilden und die wissenschaftliche Evidenz vernachlässigt oder uminterpretiert wird. Des Weiteren werden Trends auch gerne dazu benutzt, Produkte zu vertreiben. So wird das intuitive Essen bereits mit vielen anderen Themengebieten verschmolzen. Besonders die Diätindustrie ist schon mitten dabei, das IE für seine Abnehmversprechen zu instrumentalisieren. 

Tribole und Resch

Als die Schöpferinnen des Trends zum intuitiven Essen gelten Evelyn Triole und Elyse Resch. Die beiden amerikanischen Ernährungsexpertinnen haben das IE 1995 „erfunden“, um „psychologische und physiologische Bedürfnisse miteinander in Einklang zu bringen“. Es geht den beiden Autorinnen laut eigener Aussage um Körperwahrnehmung und „Empowerment“. Dabei haben Tribole und Resch einen Volltreffer gelandet. Etliche Bücher und „Workbooks“ mit zum Teil riesigen Auflagen sind bereits von ihnen zum Thema „Intuitives Essen“ erschienen.

„125 Studien“

Die Ernährungsexpertinnen und Autorinnen Elyse Resch und Evelyn Tribole kennzeichnen ihr eigenes Buch mit dem Anspruch auf wissenschaftliche Evidenz. Sie betonen, dass „125 Studien“ die positiven Ergebnisse von intuitivem Essen belegen würden. Damit ist allerdings noch nichts über die Qualität dieser Studien gesagt. Tribole und Resch sagen in der Einleitung weiterhin, dass ihr Buch „Evidenz-inspiriert“ sei. Da stellt sich dem kritischen Leser die Frage, wie weit diese Inspiration geht und an welchen Stellen sich die Autorinnen eventuell gewisse Interpretationsspielräume geschaffen haben. 

Glaube oder Wissenschaft?

Beim Lesen ihres Buches und Betrachten der Website „inuitiveeating.org bekam ich den Eindruck, dass hier eine Art Glaubenssystem geschaffen wird. Alles in allem wirken die Aufmachung und Sprache auf mich als Leser sehr amerikanisch. Mit „amerikanisch“ meine ich das ausschmückende Vokabular, der Hang zu Superlativen und die offensichtliche Anpreisung der eigenen Produkte. Zum Beispiel drücken Blogüberschriften wie „Taking the Leap of Faith into Intuitive Eating“ für mich eher einen spirituell-religiösen als einen wissenschaftlichen Anspruch aus. Passend dazu gibt es auch 10 Gebote bzw. Prinzipien des intuitiven Essen. 

10 Prinzipien des intuitiven Essens (gekürt nach Tribole und Resch)
  • Diätmentalität ablegen: Diätbücher und Zeitschriftenartikel wegwerfen.
  • Den Hunger achten.
  • Mit dem Essen Frieden schließen.
  • Die innere „Lebensmittelpolizei“ herausfordern.
  • Zufriedenheit entdecken.
  • Sättigung fühlen.
  • Emotionen mit Freundlichkeit statt mit Essen bewältigen.
  • Den eigenen Körper respektieren. Alle Körper verdienen Würde.
  • Aktiv werden und den Unterschied spüren.
  • Die Gesundheit mit guter Ernährung wertschätzen.
Intuitiv Essen ≠ unkontrolliert Essen

In einigen Sphären wird intuitives Essen kritisiert, weil es angeblich einen „Freibrief zum unkontrollierten Fressen“ ausstellen würde. Dabei müssen sich die Kritiker*innen den Vorwurf gefallen lassen, dass sie sich mit dem Programm des IE nicht wirklich auseinandergesetzt haben. Denn intuitives Essen geht bei Weitem nicht nur auf die Phänomene von Hunger und Sättigung ein. Stattdessen hat es sich auf die Fahnen geschrieben, Menschen dabei zu unterstützen, einen verloren gegangenen Zugang zu sich und den eigenen Bedürfnissen wieder zu entdecken.

Intuitives Essen und Evidenz

Für den folgenden Abschnitt dieses Blogbeitrags haben wir uns die wissenschaftliche Evidenz zum intuitiven Essen etwas genauer angesehen. Bei der Betrachtung der Evidenz ist zu betonen, dass die Forschung zum intuitiven Essen noch sehr neu ist. Sie ist von den 10 Prinzipien von Tribole und Resch beeinflusst und diese sind erst ca. 25 Jahre alt. Des Weiteren wird die Forschung zum intuitiven Essen bislang großenteils von einer einzelnen Forscherin gefördert (Tracy L. Tylka). 

Methodik

In die Beurteilung der Evidenz zum intuitiven Essen haben wir neben den Ergebnissen einer 2021 erschienenen Meta-Analyse, drei Literaturreviews und einige weitere Studien einfließen lassen. Die Literaturreviews sind aus den Jahren 2012/13, 2014 und 2019. Aus qualitativen Gründen wurden von den Forscher*innen aus den drei Literaturreviews viele Studien ausgeschlossen. Meist aufgrund zu geringer Probandenzahlen oder anderen methodischen Mängeln. Zudem ist der Großteil der Studienergebnisse über Fragebögen ermittelt worden, was die wissenschaftliche Aussagekraft einschränkt. 

Weiterhin werden die meisten Studien zum IE bislang mit weißen, jungen und gebildeten Frauen durchgeführt. 

Die Intuitive Eating Scale

Eine im Jahr 2013, von Tylka und Kroon Van Diest entwickelte Methode zur Erhebung von Daten zum intuitiven Essen nennt sich „Intuitive Eating Scale“. Sie wird seit ihrer Erfindung großenteils zur Erhebung von intuitivem Essverhalten genutzt. Die „Intuitive Eating Scale“ zeigt in vielerlei Hinsicht Überschneidungen mit den 10 Prinzipien des intuitiven Essens. Man könnte sie auch als „kondensierte Form“ dieser 10 Prinzipien bezeichnen. Denn sie setzt sich aus vier Eigenschaften zusammen, die von den 10 Prinzipien des IE abgeleitet sind:

  1. Bedingungslose Erlaubnis zum Essen bei Hungergefühl und von begehrten Speisen/Lebensmitteln.
  2. Essen aus physischen statt aus psychischen Gründen.
  3. Vertrauen auf intrinsische Faktoren von Hunger und Sättigung bei der Entscheidung wann und wie viel gegessen wird.
  4. Wertschätzung der eigenen Gesundheit und Praxis einer „liebevollen“ Ernährung.
Physische Evidenz

Eine Reihe von Studien beschäftigte sich mit den Auswirkungen von intuitivem Essen auf körperliche Parameter. Die meisten bezogen jedoch lediglich den BMI in ihre Untersuchungen mit ein. Diese, auf das Körpergewicht bezogenen Studienergebnisse schauen wir uns an späterer Stelle noch etwas genauer an. Wenige andere Studien bezogen auch Blutdruck, Cholesterinlevel u.a. Entzündungsmarker in ihre Untersuchungen mit ein. 

Eindeutige Ergebnisse bezüglich einer Veränderung dieser körperlichen Untersuchungsparameter konnten jedoch bislang nicht ermittelt werden. 

Psychische Evidenz

Intuitives Essen und die psychische Gesundheit von Menschen weisen eine starke Korrelation zueinander auf. So stellt sich zumindest die aktuelle Forschungslage dar. Die oben genannte, im März 2021 erschienene Meta-Analyse stellt signifikante psychologische Unterschiede zwischen diätenden und intuitiv essenden Menschen fest. Intuitive Esser*innen weisen geringere Werte bei allgemeinen Psychopathologien, gestörten Körperbildern und gestörtem Essverhalten auf. Zudem haben intuitive Esser*innen im Vergleich ein besseres Körperempfinden, mehr Selbstachtung und besseres Wohlbefinden. 

Umkehrschlüsse und Epiphänomene

Nun könnte es natürlich sein, dass intuitives Essen eine äußerst positive Wirkung auf die Psyche und eventuell auch auf die Physis von essenden Menschen hat. Es könnte allerdings auch sein, dass Menschen, denen es gut geht, stärker dazu neigen intuitiv zu essen. Zudem könnte es sein, dass Menschen die in einem der Norm entsprechenden Körper leben sich tendenziell weniger Gedanken um ihren Körper und ihr Essverhalten machen. Hier liegt eine der größten Gefahren bezüglich wissenschaftlicher Fehlannahmen. 

Man beobachtet „das Eine“ und schließt daraus kausal „das Andere“. Dabei könnte „das Andere“ auch kausal „das Eine“ hervorrufen. Oder beide Phänomene könnten unabhängig voneinander vorliegen. 

Vögeln das Fliegen beibringen

Nassim Nicholas Taleb bringt dieses sogenannte Epiphänomen mit einer Geschichte auf den Punkt: Man stelle sich Forscher vor, die Jungvögeln mit verschiedensten Methoden versuchen das Fliegen beizubringen. Und tatsächlich, fast alle Unterrichtseinheiten tragen Früchte- die Vögel beginnen zu fliegen. Es lässt sich sogar beobachten, dass alle Vögel denen nicht während des Unterrichts die Flügel gestutzt wurden, früher oder später beginnen zu fliegen. Die Forscher beglückwünschen sich gegenseitig, erhalten Preise, Auszeichnungen und Ehrendoktortitel. Alle sind glücklich, außer die Vögel mit den gestutzten Flügeln. Aber die werden sowieso nicht gefragt.

Hier sei die kritische Frage erlaubt, ob die Forscher das Fliegen positiv oder negativ beeinflusst haben. 

Die Kehrseite der Medaille

Auf der anderen Seite der Medaille dieser großartigen Forschungserfolge steht, dass die Vögel, denen als Unterrichtsmaßnahme die Flügel gestutzt wurden, auch dann nicht mehr anfangen zu fliegen, wenn die Forscher sie endlich in Ruhe lassen. Wenn wir diese Analogie auf das intuitive Essen anwenden, stellt sich die Frage, inwieweit diejenigen, die durch Diäten, epigenetische Einflüsse und kulturelle Stigmatisierung geschädigt wurden, dazu in der Lage sind, das intuitive Essen wieder zu entdecken. 

Genau hier sollte zukünftige Forschung zum IE mit langjährigen Beobachtungsstudien ansetzen. Sie sollte objektiv erfassen, unter welchen Bedingungen sich intuitives Essen erlernen lässt und wie es sich langfristig auf die Entwicklung der individuellen Gesundheit unterschiedlicher Menschen auswirkt.

Intuitives Essen und Gewicht

Im Rahmen der Diskussion um intuitives Essen wird immer wieder über Gewichtsreduktion gesprochen. Dabei geht es beim intuitiven Essen ausdrücklich nicht um das Gewicht. Das ist teilweise schwer zu akzeptieren, da Diäten und der normative Zwang zur Gewichtsregulation fest in unserer Kultur verankert ist. In meinen Augen hat hier das intuitive Essen seine größte Stärke, weil es eben diese kulturellen Normen kritisch hinterfragt. Es verweigert die Fokussierung auf das Körpergewicht. Man isst nicht intuitiv, um am Ende doch sich selbst auszutricksen und abzunehmen. Man isst intuitiv, um Frieden mit sich selbst zu schließen. 

Beim Grundgedanken des intuitiven Essens geht es um Selbstakzeptanz, Wohlbefinden und Gesundheit. Es geht NICHT um die Veränderung von Körperform und -gewicht.

Abnehmen

Bei den Themen Körpergewicht und Abnehmen wird intuitives Essen immer wieder stark kritisiert. Die Kritiker*innen meinen, dass intuitives Essen Menschen von der Verantwortung freisprechen würde, auf ihr Körpergewicht und ihre Gesundheit zu achten. Das ist eine interessante Wahrnehmung. Wenn wir uns nämlich die wissenschaftliche Evidenz anschauen, wird deutlich, dass die Versprechen bzgl. großer und nachhaltiger Abnehmerfolge im Großen und Ganzen Augenwischerei der Diätindustrie sind. 

Laut einer Übersichtsstudie von Tomiyama et. al. aus dem Jahr 2007 sind langfristige Gewichtsabnahmen von mehr als vier Kilogramm völlig unrealistisch. In vielen Studien nahmen Abnehmwillige schlussendlich mehr Gewicht zu, als sie verloren hatten.

Diäten vs. Gesundheit

Außerdem sorgen Diäten auch nicht für mehr Gesundheit. Ganz im Gegenteil. Gewichtsschwankungen, die durch intensive Diäten verursacht werden können, wirken sich wahrscheinlich negativ auf die Gesundheit aus. Intuitives Essen hingegen soll, ersten Forschungsergebnissen zufolge, dafür sorgen, dass sich Gewichtsschwankungen reduzieren lassen. Das Körpergewicht ließe sich zwar ebenfalls nicht signifikant senken, aber immerhin stabilisiere es sich.

Sollten sich diese Forschungsergebnisse bestätigen, hat intuitives Essen gegenüber Diäten sowohl bezogen auf Gesundheits- als auch auf Gewichtsaspekte Vorteile. 

Bariatrische Operationen

Die einzigen Methoden zur Gewichtsreduktion, die bislang messbare und signifikante Ergebnisse bzgl. Gewichtsabnahme liefern, sind die sogenannten bariatrischen Operationen. Es sollte jedoch bedacht werden, dass es noch keine qualitativ hochwertigen Langzeitstudien zu den Auswirkungen von bariatrischen Operationen gibt. Sich irreversibel operieren zu lassen, weil man sich zu dick fühlt ist eine „once-in-a-lifetime-Entscheidung“. Die Auswirkungen solcher Entscheidungen lassen sich nicht vollständig absehen und sollten daher gut überlegt und abgewogen werden.

Wenn wir Schlankheit als den heiligen Gral ansehen, erscheinen die bariatrischen Operationen als die einzig gangbare Lösung. Ob schlank sein für alle Menschen gesundheitsförderlich ist, lässt sich jedoch schwer sagen.

Schlankheit oder Gesundheit?

Historisch hat sich die Definition von Schlankheit immer wieder gewandelt. Das Erfüllen von Schlankheitsidealen und willkürlich gesetzten BMI-Werten sollte nicht mit individueller Gesundheit verwechselt werden. Den Blick auf individuelle Gesundheit und Wohlbefinden zu legen, ist viel komplexer und subjektiver als einfach nur den BMI zu Rate zu ziehen. Auch, weil Genusserfahrungen tendenziell selbst gesundheitsförderlich zu sein scheinen. Zumindest lässt sich das französische Paradox auf diese Weise interpretieren. Naturwissenschaftlicher Forschung ist diese Subjektivität natürlich ein Graus.

Ernährungsphilosophischer Konflikt

Die folgenden Teile des Blogbeitrags stellen meine Meinung dar. Sie sind philosophischer Natur und nicht evidenz-basiert.

Betrachte ich den Trend zum intuitiven Essen und seine Kritiker*innen aus einer gewissen Distanz, wird für mich deutlich, dass es sich um einen Konflikt der Weltanschauungen handelt. Es scheint mir kein Zufall zu sein, dass Feminismus, „Body-positive“, „Health-at-every-size“ und intuitives Essen oftmals Hand in Hand gehen. Dass größtenteils Frauen sich im Bereich des intuitiven Essens engagieren, scheint ebenfalls nicht völlig willkürlich zu sein. In meinen Augen ist es jedoch zu einfach einen Kampf der Geschlechter zur Grundlage des Konflikts zu machen. 

Gesellschaftliches Kampfgeschehen

In meiner Wahrnehmung symbolisiert die scharf geführte Diskussion zwischen „rigide Diät vs. Intuitives Essen“ einen gesellschaftlichen Kampf, der weit über das Thema Ernährung hinaus geht. Ehrlich gesagt hatte ich sogar etwas Angst davor diesen Blogbeitrag zu veröffentlichen, weil ich befürchte zwischen die Fronten zu geraten. Als Mann, Ökotrophologe und Ernährungsberater bin ich es gewohnt eine Ausnahmeerscheinung zu sein und habe des öfteren das Gefühl „dazwischen“ zu stehen. Gleichzeitig eröffnet sich mir dadurch eine besondere Perspektive und führt zu Fragen wie:

Zwischen wem wird dieser gesellschaftliche Kampf geführt und wo verläuft die Kampflinie?

Blaue Ecke: Du bist gut so wie du b(isst)

Die Vertreter*innen des intuitiven Essens et. al. sind im Großen und Ganzen der Meinung, dass alle Menschen wertvoll sind und Würde verdient haben. Egal ob dick oder dünn, schwarz, weiß oder People of Color, weiblich, männlich oder divers. Zudem herrscht die Überzeugung vor, dass das Körpergewicht größtenteils durch Faktoren determiniert wird, die sich nicht, oder zumindest nicht auf oberflächlicher Ebene lösen lassen. Somit läuft der Ansatz diesseits der „Kampfeslinie“ darauf hinaus, dass Selbstakzeptanz und Wohlbefinden im Vordergrund zu stehen haben. 

Diskriminierung, Stigmatisierung sowie das normative Erfüllen von Regeln bzgl. Gewicht und Körper werden strikt abgelehnt.

Rote Ecke: Du kannst alles schaffen

Die schärfste Kritik am intuitiven Essen kommt tendenziell von Menschen, die zu dem Glauben neigen, dass mit genug Selbstdisziplin jeder alles schaffen könne. Es ist eine Philosophie der Zurichtung von Körpern und der behavioristischen Psychologie. Die Vertreter*innen dieser Weltanschauung wollen Anreize setzen, die Menschen dazu zwingen, sich anzupassen. An moderne Schlankheits- und Körpernormen, an wirtschaftliche „Notwendigkeiten“ etc. pp. Sie sind der Meinung, dass Abweichungen vom (Schlankheits-)Ideal stets ein Verhaltensproblem beinhalten würden. Des Weiteren glauben sie, dass „Verhaltensprobleme“ durch die richtigen Anreize aufgelöst werden könnten. 

Selbstakzeptanz und Wohlbefinden sind daher mit Argwohn zu betrachten, denn sie könnten für „Verweichlichung“ sorgen.

Macht und Kontrolle vs. Loslassen

Der dahinterliegende Wunsch der Vertreter*innen der „roten Ecke“, sich zu kontrollieren und Macht über Körper, Geist und Natur haben zu wollen, ist nachvollziehbar. Gerade in einer interdependenten, hochkomplexen und technisierten Welt. Aber die Kontrolle über Körper, Geist und Natur funktioniert nicht nachhaltig. An dieser Stelle kann die Beschäftigung mit stoischer Philosophie helfen. Sich einzugestehen, wie verletzlich man als Mensch ist und wie wenig Macht man hat, wirkt sich paradoxerweise positiv auf die eigene Fähigkeit aus, seinem Schicksal ein wenig auf die Sprünge zu helfen. 

Eigentlich logisch, überlegt man einmal, wie enorm viel Kraft es kostet, die Illusion aufrecht zu erhalten, dass man alleiniger Herr über sein Schicksal sei.

Verständnis für beide Seiten

Ich persönlich kann beide genannten Seiten gut nachvollziehen. Denn die „Du-kannst-alles-schaffen“-Mentalität ist mir alles andere als fremd. Als Jugendlicher wurde ich in der Schule gemobbt und fühlte ich mich zu dick. Daraus erwuchs der Wunsch, meinen Körper durch exzessiven Sport und Diäten zu verändern. Ich verstehe daher, dass man fest davon überzeugt sein kann, dass man doch irgendetwas tun können müsste um seinen Körper zur Veränderung zu zwingen, ihn „zur Vernunft“ zu bringen. Somit kann ich sagen, dass die bestehende Evidenz bezüglich der Sinnlosigkeit von Diäten mit meinen persönlichen Erfahrungen bestens übereinstimmt.

Gestörtes Essverhalten

Die Folge des Wunsches, mein Schicksal zu kontrollieren, hatte erhebliche Auswirkungen auf mein Essverhalten. Darüber hinaus veränderte es meine grundsätzliche Einstellung zum Essen, Genießen und Leben. Es ging mir zunehmend weniger darum, Nahrungsmittel zu genießen, mit anderen zusammen zu essen und darauf zu hören, was mein Körper mir mitzuteilen hat. Essen war funktionell, diente dafür meine Muskelmasse zu steigern, mich stärker zu machen und Fett zu reduzieren. 

Ich verlor durch den Wunsch mich zu kontrollieren für lange Zeit den Kontakt zu mir und meinen eigenen Bedürfnissen. 

Intuitives Essen ist mehr als Ernährung

Am Ansatz des intuitiven Essens gefällt mir besonders, dass es mehr beinhaltet als Ernährungsempfehlungen. IE betrachtet und fördert die Selbstachtung, das Wohlbefinden und die Würde von Menschen. Es geht darum, bestehende Normen zu hinterfragen und uns Menschen von Zwängen zu befreien, die wenig nutzen, aber vielen schaden. Intuitives Essen erkennt die eigenen Bedürfnisse an und schenkt ihnen unbedingte Wertschätzung. 

Daher scheint mir Trend zum IE, Ausdruck eines tiefverwurzelten und empathischen Humanismus zu sein. 

Verdinglichung

Nach meiner Wahrnehmung steht das intuitive Essen und verwandte Bewegungen der Nutzbarmachung und Zurichtung von Körpern durch Sex- und Diätindustrie diametral gegenüber. Ich vermute, dass diese Industrien „das Andere“ bzw. die eigentlichen Gegner dieser gesellschaftlichen Bewegung sind, zu dem das intuitive Essen gehört. Vielleicht passt hier am ehesten das plakative Wort des Neoliberalismus als eine Religion des Wirtschaftswachstums. Für dieses Wirtschaftswachstum erscheint Verdinglichung von Mensch und Natur als notwendiges Mittel zum Zweck.

Diesem Glaubenssystem zu dienen, bedeutet Selbstachtung, Wohlbefinden und Würde ohne mit der Wimper zu zucken gegen ein paar Prozente Wirtschaftswachstum einzutauschen.

Versöhnung

Mir ist es persönlich wichtig, den beschriebenen Kampf nicht als sich manichäistisch gegenüberstehende Gegensatzpaare à la „gut vs. böse“ zu betrachten. Verdinglichung klingt zwar schlecht, aber ohne die Menschen vor uns, die sich verdinglicht haben, um nachfolgenden Generation ein gutes wirtschaftliches Auskommen zu ermöglichen, gäbe es den materiellen Überfluss, aus dem wir heute so selbstverständlich schöpfen gar nicht. Produktivität, Effizienz und Naturbeherrschung sind ja nicht per se negativ. Im gewissen Maße geben sie dem modernen Leben auch einen Rahmen und Kontur.  

Echter Fortschritt?

Allerdings leben wir in einer Gesellschaft zusammen, die uns zu ständiger Produktivität, Effizienzsteigerung und Beschleunigung drängt. Das spätmoderne Leben ist von so viel Druck geprägt, dass es durchaus angebracht ist, zu hinterfragen, wie sich das auf das menschliche (Er)Leben auswirkt. Was an diesen Entwicklungen tatsächlich echter Fortschritt ist und was nicht, darf höflichst hinterfragt werden. Die reiche Auswahl an Lebensmitteln und Speisen ist jedoch zweifelsohne ein echter Fortschritt und garantiert besser als am Hungertuch zu nagen. 

Wenn wir jedoch lediglich essen um zu funktionieren, arbeiten um produktiv zu sein und lieben um den gesellschaftlichen Ansprüchen zu genügen, was bleibt dann noch vom Leben übrig?

Essen aus Freude

Was wir unabhängig von den Forschungsergebnissen zum intuitiven Essen sagen können, ist, dass wir die materiellen Grundlagen besitzen, unser Essen zu genießen und im wahrsten Sinne des Wortes aus den Vollen zu schöpfen können. Zudem haben die vorangehenden Generationen für uns eine zivilisatorische Sicherheit vor menschlichen und nichtmenschlichen Bedrohungen geschaffen, die historisch einmalig ist. Somit können wir tatsächlich aus reiner Freude am Leben essen. Es ist jedoch eine große Herausforderung sich diesen Wohlstand und diese Sicherheit bewusst zu machen. Man muss sie sich tagtäglich wieder vor Augen führen.

Ich bin zu der Meinung gelangt, dass eine freudvollere Einstellung dem Essen und Genuss gegenüber auch zu einer (positiv) veränderten Wahrnehmung der restlichen Welt führt. Und andersherum.

Essen als Tür zur Welt

Essen und Trinken sind die Grundlagen des materiellen Lebens. Wir könnten an einen beliebigen Zeitpunkt der Evolutionsgeschichte reisen und immer wieder den selben Alltag beobachten: Lebewesen, die ihr Leben damit zubringen um Nahrung und Sexualpartner zu konkurrieren. Heute haben wir theoretisch die Grundlagen dafür entwickelt, diese uralten Probleme für alle Menschen zu transzendieren. Sich auszumalen, welche Möglichkeitsräume sich dadurch eröffnen, führt zu gleichsam phantastischen als auch realistischen Vorstellungen über etwas, das wir getrost „das gute Leben“ nennen können.

Es existieren die materiellen Grundlagen für ein gutes, genussvolles Leben und wir dürfen als erste Generationen lernen, diese einmalige historische Chance zu nutzen.

Intuitives Essen als Metapher

Um das gute Leben für möglichst viele Menschen zu ermöglichen, benötigen wir ein erweitertes Verständnis darüber, wie wir leben wollen. Die Frage: wieviel ist genug? kann hierbei grundlegende Einsichten schaffen. Auch hier stellt unsere Art zu essen eine sinnvolle Gedankenstütze für unsere Lebenseinstellung dar. Essen wir tendenziell schnell und maßlos? Oder eher langsam und bedächtig? Nutzen wir das Essen als gemeinschaftlichen Raum, in dem genossen und gelacht werden darf? Oder sitzen wir währenddessen alleine in unserem Kämmerlein und blasen Trübsal? 

Balance statt Extreme

Stellen wir uns eine gesellschaftlich-kulturelle Wippe vor. Die rechte Seite stehe sinnbildlich für Kontrolle, Verbote und feste Regeln. Auf der linken Seite befinden sich dagegen Lockerheit, Impulsivität und Spontanität. Angenommen man sitzt lediglich auf einer Seite der Wippe, egal welcher, ist man im Ungleichgewicht und es bewegt sich nichts. Sitzt man überwiegend auf der rechten Seite, dann ist ein Gegengewicht aus der Richtung Intuition und Spontanität höchst sinnvoll. Befindet man sich hingegen bereits in einem Bereich der vollkommenen Lockerheit ohne Impulskontrolle, dann wäre es wohl besser, sich auf die Etablierung von festen Regeln zu konzentrieren.

Ich denke, dass sich diese Allegorie auch gut auf einzelne Menschen und ihr Essverhalten anwenden lässt.

Individuelle Einseitigkeit

Ein individueller Fokus auf Produktivität, Effizienz und Beschleunigung ist relativ eindimensional. Auf unserer imaginierten Wippe säße man damit ziemlich weit rechts und verdinglicht sich für Zwecke außerhalb seiner eigenen Interessen. Den Fokus komplett auf Lockerheit, Spontanität und das eigene Gutdünken zu legen hingegen wäre jedoch ebenso eindimensional- und egozentrisch. Zudem ist diese Haltung auch potenziell arrogant und überheblich. Denn um sich diese Lockerheit erlauben zu können, benötigt man eine materielle Grundlage, die vom täglichen Kampf ums Überleben befreit. 

Intuitives Essen vs. Extreme

Das intuitive Essen weist eine positive Korrelation mit psychischer Gesundheit auf. Zudem gibt es klare Hinweise darauf, dass Gewichtsschwankungen durch IE reduziert werden können. Somit berichten nicht nur Tribole und Resch sowie andere qualifizierte Ernährungsberater*innen von guten Erfahrungen mit dem intuitiven Essen. Auch die bislang existierenden wissenschaftlichen Hinweise zeichnen ein gelingendes Bild des IE. Zwar sollten diese ersten Ergebnisse mit Vorsicht betrachtet werden. Denn die Forschung zum intuitiven Essen steht noch ganz am Anfang. Allerdings sollte man sich vor Augen führen, dass…

… Intuitives Essen sich sowohl aus Regeln als auch aus individuellem, subjektivem Interpretationsspielraum innerhalb dieser Regeln konstituiert.

Intuitives Essen ist ziemlich ausbalanciert

Die Prinzipien des intuitiven Essens sind in meinen Augen deutlich ausdifferenzierter als die bestehende Diätmentalität. Tribole und Resch legen den Fokus nicht ausschließlich auf feste Regeln und auch nicht auf vollkommene Konturlosigkeit. Das intuitive Essen scheint mir eine gesellschaftlich-kulturelle Schubkraft in Richtung Balance zu sein. Dabei ist es auch egal, ob man eher rechts oder links auf der Wippe sitzt. Das intuitive Essen ist sicherlich nicht der Wahrheit letzter Schluss. Es ist jedoch deutlich ausbalancierter als die bislang existierenden Ess- und Ernährungsempfehlungen. Inklusive der von DGE und Co.

Zudem liegt absolute Wahrheit vermutlich sowieso außerhalb der Erkenntnisfähigkeit von uns Menschen. 

Kritik am intuitiven Essen

Wenn man dem intuitiven Essen einen Vorwurf machen kann, dann liegt er darin, dass er in einigen Kreisen bereits dogmatische Züge angenommen hat. Ich bin der Meinung, dass hier stets die Gefahr von neuen Konzepten liegt. Zu Beginn stellen sie den Status-Quo in Frage und liefern elegante neue Modelle. Doch sobald sie Teil des Mainstreams geworden sind und Menschen damit materielle und immaterielle Gewinne einfahren, besteht die Gefahr des Dogmatismus. 

Intuitives Essen – Fazit

Das intuitive Essen ist eine „evidenzinspirierte“ Alternative zu Diäten. Dass Diäten nicht für große und gleichzeitig nachhaltige Abnehmerfolge taugen, ist mittlerweile evident. Zudem begünstigen diese vermutlich Gewichtsschwankungen, die sich wahrscheinlich negativ auf die Gesundheit auswirken. Aus diesen Gründen und weil es von qualifizierten Ernährungsfachkräften entwickelt wurde, ist intuitives Essen empfehlenswerter als weiter in der Diätmentalität stecken zu bleiben. Wenn wir also die „Entweder-oder-Frage“ stellen, stehe ich ganz sicher auf der Seite des intuitiven Essen und kämpfe gegen die Verdinglichung, Diskriminierung und Stigmatisierung von (dickeren) Menschen. 

Der Mensch im Mittelpunkt

Das intuitive Essen stellt den essenden Menschen in den Mittelpunkt und ist daher sehr kompatibel mit unserem Zeitgeist des Individualismus. Auch in dieser Hinsicht kommt das intuitive Essen dem Mittelpunkt der Wippe in der oben beschriebenen Allegorie relativ nahe. Dieses in den Mittelpunkt-Stellen des Individuums ist ein Ausgleich zu der Sicht, dass der Mensch lediglich als Humankapital zu dienen hätte. Man könnte sagen:

Essen und Genuss sollen als (temporäre Befreiung) von der Verdinglichung durch wirtschaftliche Zwänge dienen.

Intuitives Essen taugt nicht zur Erlösung

Intuitives Essen hinterfragt Verdinglichung und verbindet den Menschen mit den eigenen Bedürfnissen. Insbesondere für Menschen, die dazu neigen alles kontrollieren zu wollen und ihr Essverhalten zu instrumentalisieren kann intuitives Essen somit ein gutes Konzept sein. Es sollte jedoch bedacht werden, dass Essen nicht zur dauerhaften Befreiung taugt. Das intuitive Essen stellt ein Gegengewicht zur nachweislich schädlichen Diätmentalität dar. Zur neuen Religion taugt es in meinen Augen jedoch nicht.

Schlussendlich wird es keine Befreiung für jeden und alle Zeiten geben. Weder durch Essen, Sex oder irgendetwas anderes. Erlösung gibt es nicht. Auch das gute Leben endet zwangsweise im Grab.

Intuitives Essen und Ernährungsberatung

Qualifizierte Ernährungsberatung, wie ich sie verstehe, kann sich einiges vom Konzept des intuitiven Essens abschauen. Es geht darum, Menschen einen individuellen Weg zu sich selbst finden- und ihre eigenen körperlichen und psychischen Bewegungen nachvollziehen zu lassen. Nach meiner persönlichen Erfahrung können die damit verbundene Selbstakzeptanz und Selbstfindung zu mehr Frieden und Sinn im eigenen Leben beitragen. In der Ernährungsberatung kann ich Menschen dabei unterstützen, eine individuelle Balance zwischen körperlichen Impulsen, festen Regeln, individueller Spontaneität und Sozialleben zu finden.

In meinen Augen lässt sich auf diese Weise das subjektiv gute Leben finden. Nicht mehr und nicht weniger.

Danksagung

Vielen Dank an Nils Ackemann, der mich bei diesem Blogbeitrag tatkräftig unterstützt hat. Besonders bei der Literaturrecherche und beim Erstellen des Titelbilds war er mir eine wertvolle Hilfe. 

Hauptquellen:

  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/25754299/ – Impact of non-diet approaches on attitudes, behaviors, and health outcomes: a systematic review 
  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/19942013/ – What should you know about mindful and intuitive eating?
  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23962472/ – Relationships between intuitive eating and health indicators: literature review
  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31687166/ – Intuitive eating, objective weight status and physical indicators of health
  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/33786858/ – Intuitive eating and its psychological correlates: A meta-analysis
  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24631111/ – A Review of Interventions that Promote Eating by Internal Cues
  • https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/23356469/ – The Intuitive Eating Scale-2: item refinement and psychometric evaluation with college women and men
  • https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC3209643/ – Set points, settling points and some alternative models: theoretical options to understand how genes and environments combine to regulate body adiposity 
  • https://escholarship.org/uc/item/2811g3r3 – Medicare’s search for effective obesity treatments: diets are not the answer 
  • https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC7190064/ – Comparison of dietary macronutrient patterns of 14 popular named dietary programmes for weight and cardiovascular risk factor reduction in adults: systematic review and network meta-analysis of randomised trials

Weitere Onlinequellen: 

  • https://doi.apa.org/doiLanding?doi=10.1037%2F0022-0167.53.4.474 
  • https://psycnet.apa.org/record/1951-02195-000 
  • https://www.ugb.de/ugb-medien/einzelhefte/vitamine-kleine-dosis-grosse-wirkung/intuitive-ernaehrung-essen-nach-dem-bauchgefuehl/  
  • https://www.intuitiveeating.org 
  • https://www.ncbi.nlm.nih.gov/pmc/articles/PMC5888222/ 

Ergänzende Literaturangaben:

  • Christoph Klotter – Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem; 1990
  • Christoph Klotter – Identitätsbildung über Essen, Ein Essay über „normale“ und alternative Esser; 2016 
  • Hartmut Rosa – Resonanz; Eine Soziologie der Weltbeziehungen; 4. Auflage; 2016
  • Jonathan Haidt – The Righteous Mind: Why Good People are Divided by Politics and Religion, 2013
  • Nassim Nicholas Taleb – Das Risiko und sein Preis: Skin in the Game; 2017
  • Tribole und Resch – Intuitive Eating, 4th Edition: A Revolutionary Anti-Diet Approach; 2020
  • Yuval Noah Harari – Eine kurze Geschichte der Menschheit; 2015