Konditionierung in der Ernährungsberatung

Konditionierung in der Ernährungsberatung

Nachdem die moderne Psychologie Ende des 19. Jahrhunderts aus den Fachbereichen der Philosophie und Biologie/Medizin entstanden war, entwickelten sich um 1920 zwei gegenläufige Strömungen. Einerseits die von Sigmund Freud geprägte Psychoanalyse und andererseits der sogenannte Behaviourismus. Letztere Strömung wird mit Namen wie Watson und Skinner assoziiert. Auch Ivan Pavlov spielt in der Geschichte des Behaviourismus durch die Erforschung der klassischen Konditionierung eine wichtige Rolle. Wir widmen uns in diesem Blogbeitrag der Konditionierung und stellen die Frage, ob sie Platz in der Ernährungsberatung und -therapie haben sollte. Viel Spaß beim Lesen und danke für deine Aufmerksamkeit.

Konditionierung & Behaviourismus

Watson, Skinner und Pavlov sind die bekanntesten Namen, wenn über Konditionierung und Behaviourismus gesprochen wird. Pavlov hat die bekannten Reiz-Reaktion-Kopplungsmechanismen bei Hunden erforscht. Er hatte es geschafft, den unkonditionierten Reiz Futter mit einem konditionierten Reiz (Klingelläuten) so zu koppeln, dass der Speichelfluss als unkonditionierte Reaktion auf Futter nach einer gewissen Zeit auch ohne Futtergabe funktionierte, wenn er die Klingel läutete (konditionierte Reaktion) (MYERS, D.G., 2013).

Pavlov hat mit seinen Experimenten zur klassischen Konditionierung einen wertvollen Beitrag zum Verständnis von Lernprozessen beigetragen und seine grundsätzlichen Erkenntnisse gelten noch heute.

Funktioniert Konditionierung bei Menschen?

John B. Watson stützte sich auf die Forschungsergebnisse von Pavlov und ging dann soweit zu behaupten, er könne theoretisch aus jedem Menschen den Spezialisten machen, den er wolle – von Anwälten, über Ärzte und Bettlern bis hin zu Kriminellen. Die Ideen von Watson hatten ihre Grenzen, aber Konditionierung kann durchaus therapeutischen Nutzen entfalten. Insbesondere, wenn es um Ängste geht. Es gilt als erwiesen, dass Konfrontation genutzt werden kann, um Ängste zu überwinden (MYERS, D.G., 2013). Beispielsweise können so erfolgreich Flugängste u.ä. behandelt werden, indem durch häufige Exposition gelernt wird, dass der wirkende Reiz ungefährlich ist.

Klassische vs. operante Konditionierung

Klassische Konditionierung beschreibt die Fähigkeit, Ergebnisse aufgrund von Erfahrungen von Reizen aus der Umwelt zu erwarten und uns auf lebensnotwendige oder -bedrohliche Ereignisse vorzubereiten. Die operante Konditionierung ist etwas komplexer. Hier lernen wir, Handlungen, also eigene Reaktionen die zu positiven Ergebnissen führen, zu wiederholen und andersherum Handlungen mit negativen Folgen zu vermeiden. Letztlich haben beide Formen der Konditionierung mit der Fähigkeit zu Lernen und zu Assoziieren zu tun (MYERS, D.G., 2013).

Operante Konditionierung und die „Skinner-Box“

Die operante Konditionierung ist ein effizientes Mittel, um Tiere und auch Menschen dazu zu bringen, das zu tun, was man von ihnen möchte. Lob, Aufmerksamkeit oder eine Bonuszahlung können zum Beispiel von Arbeitgebern eingesetzt werden, um positiv bewertete Arbeitsleistungen zu verstärken. Negative Verstärkung hingegen ist nicht Bestrafung, sondern das Abstellen eines negativen Reizes, wie z.B. ein unangenehmes Geräusch (Warum macht man wohl seinen Wecker aus?) oder Schmerzen (Deshalb nehmen Menschen Aspirin bei Kopfschmerzen).

B.F. Skinner hat mit seiner „Skinner-Box“ die Bedingungen der operanten Konditionierung an Tieren genauestens erforscht (MYERS, D.G., 2013).

Menschliches Verhalten konditionieren?

B. F. Skinner sah kein ethisches Problem darin seine Mitmenschen willentlich zu konditionieren, weil der der Überzeugung war, dass wir sowieso alle ständig auf Instrumente der operanten Konditionierung zurückgreifen würden, allerdings meist unbewusst. Zudem war er davon überzeugt, dass wir oft Verhaltensweisen positiv verstärken, obwohl wir eigentlich das Gegenteil erreichen wollen (z.B. einem quengelnden Kind Aufmerksamkeit schenken und damit das unerwünschte Verhalten positiv verstärken). Skinner war der Meinung, dass es für alle besser sei, wenn wir die Verhaltensweisen, die wir uns wünschen, effektiv und bewusst konditionieren würden (MYERS, D.G., 2013).

Ist Konditionierung ethisch vertretbar?

Ist es in Ordnung, einen Menschen zu etwas zu bewegen, was er*sie nicht frei gewählt hat? Watson, Skinner und andere Behaviouristen schätzten mentalistische Konzepten, wie das Bewusstsein, gering. Deswegen ist Konditionierung für sie ethisch unbedenklich. In meinen Augen eröffnet diese Geringschätzung von Bewusstsein und inneren Zuständen von Menschen eine Tür zu Manipulation ohne Reue. Wenn man davon ausgeht, dass die inneren Zustände, also u.a. Gefühle keine Rolle spielen, kann man Menschen und Tiere nach den eigenen Bedürfnissen manipulieren, ohne deswegen Gewissensbisse haben zu müssen.

Menschenbilder

Es stellt sich also die Frage nach dem Menschenbild. Bin ich davon überzeugt, dass das menschliche Bewusstsein eine „Black-Box“ ist, wie die Behaviouristen, ist Konditionierung nicht nur ethisch unproblematisch, sondern wichtig, um humane und förderliche Verhältnisse für die Gesellschaft herzustellen. Gehe ich hingegen, wie der Psychoanalytiker Donald Winnicott, davon aus, dass jeder Mensch einen unveränderlichen Kern in sich trägt, ein „Wahres Selbst“ (Vgl. WINNICOTT, D. W., 2010) dann kann ich Konditionierung die dieses „Wahre Selbst“ kompromittiert als ein Verbrechen an der Menschlichkeit wahrnehmen.

Die Frage, welches dieser Menschenbilder der Realität eher entspricht ist wohl kaum aufzulösen.  

Konditionierung erweist sich als komplexes ethisches Problem

Vermutlich sind wir uns einig, dass es Verhaltensweisen gibt, bei denen es besser für alle Beteiligten ist, wenn sie mittels Konditionierung an gesellschaftliche und soziale Notwendigkeiten angepasst werden. Ich halte es zum Beispiel für unverantwortlich, in einer friedlichen Gesellschaft körperliche Gewalt über operante Konditionierung nicht zu reduzieren. Aber es wird schnell komplexer: Wollen wir Schulkinder dazu konditionieren, dass sie brav und ruhig im Unterricht sitzen oder dazu, dass sie die Regeln der Autoritäten hinterfragen und aufbegehren gegen systematische Fehler und Ungerechtigkeiten, die sie wahrnehmen?

Konditionierung im neoliberalen Wirtschaftssystem

Das angerissene ethische Problem lässt sich auch im Kontext unseres wirtschaftlichen Gesamtsystems betrachten: Aktuell werden diejenigen Individuen mit guten Schul- und Studienabschlüssen sowie beruflichem Aufstieg belohnt, die sich bestmöglich an die Regeln des neoliberalen Systems anpassen (Positive Verstärkung). Es gibt gute Indizien, dass dieses Wirtschaftssystem letztlich einen Klimakollaps herbeiführen und/oder die in ihm lebenden Individuen (psychisch) krank machen könnte (Vgl. z.B. ROSA, H., 2016).

Kranke Systeme

Potenziell krankmachende Verhaltensweisen wie „Leistung um jeden Preis“, „immer größere Effizienz“, „ständige Leistungssteigerung ohne Endpunkt“ und damit verbundene unbezahlte Überstunden sowie übertriebene Kontrolle der Bedürfnisse und Gelüste sind Nebenwirkungen, die durch das neoliberale Wirtschaftssystem verstärkt werden. Doch diese Nebenwirkungen werden vom System hingenommen oder sogar implizit gewollt und können nur dann verändert werden, wenn Menschen bewusst über die Folgen ihres Handelns reflektieren, anstatt „automatisch zu funktionieren“.

Unterscheidet die Fähigkeit zum abstrakten Reflektieren über das eigene Handeln sowie die Systeme, in denen wir leben, das menschliche Dasein nicht erst von dem anderer Tieren und der Existenz von Maschinen?

Das neoliberale Wirtschaftssystem & Ernährungsberatung

Ein Grundproblem des neoliberalen Wirtschaftssystems besteht darin, dass es auf alle Bereiche des menschlichen Lebens übergreift (Vgl. ROSA, H, 2016). Vom Arbeitsplatz über das Privatleben, bis hin zum Umgang mit dem eigenen Körper und dem Ernährungsverhalten. Wenn der eigene Körper nur noch als Instrument zur Leistungssteigerung und Objekt der Zurichtung gesehen wird, bleibt vom Menschsein nicht mehr viel übrig. Dabei stellt sich die Frage der Stabilität – sowohl individiuums- als auch systembezogen.

Konditionierung funktioniert zwar ganz wunderbar, wenn es um die Verstärkung natürlicher Anlagen geht. Bei der Anerziehung unnatürlicher Verhaltensweisen stößt sie jedoch an ihre Grenzen.

Welche Aufgabe hat Ernährungsberatung?

In einem älteren Blogbeitrag habe ich schon einmal ausführlich beschrieben, welche Aufgabe Ernährungsberatung und Ernährungstherapie meines Erachtens haben. Kurz herunter gebrochen kann sie entweder system- oder individuumsdienlich vorgehen. Wenn ich mich als Ernährungstherapeut dem Staat und/oder Wirtschaftssystem verpflichtet fühle, versuche ich dafür zu sorgen, dass meine Klient*innen sich möglichst so verhalten, dass sie die größte Produktivkraft und die geringsten Kosten verursachen. Gesunde Ernährung bzw. gesundheitsförderliches Verhalten werden dadurch zum Staatsdienst (KLOTTER, C. & HOEFERT, H.-W., 2011).

Konditionierung in der Ernährungsberatung

In der Arbeit als Ernährungsberater (oder Ernährungstherapeut, was ich als passenderen Begriff für meine Tätigkeit ansehe) kann ich, um dem System zu dienen sowohl normative Vorgaben machen (Ernährungskreis, Ernährungspyramide und Co.) als auch operant konditionieren. Beispielsweise könnte ich eine Körperwaage in meinen Praxisräumen aufstellen und meine Klient*innen wiegen. Gewichtsverlust wäre dann eine negative Verstärkung, um Scham- und Schuldgefühle aufgrund von Mehrgewicht und Nicht-Entsprechen des Körperideals zu lindern. Außerdem könnte ich sie dafür loben, wenn sie Gewicht abgenommen haben (positive Verstärkung).

Diese Konditionierung ist tabu

Es ist für mich selbstverständlich, auf diese normative Art der Konditionierung zu verzichten. In meinen Augen geht es darum, dass meine Klient*innen sich selbst, ihre Bedürfnisse und Motivationen besser kennenlernen. Als psychologisch orientierter Ernährungstherapeut gehe ich davon aus, dass es Menschen besser geht, wenn sie sich verstanden und wertgeschätzt fühlen und verschiedene Anteile ihres Selbst in ihre Persönlichkeit integrieren können. Aus dieser Integration können sie dann ableiten, welche Verhaltensweisen und Gewohnheiten sie in ihrem Leben etablieren wollen und damit im gewissen Maße, wer sie sein wollen.

Konditionierung durch Gesprächsführung

Auf Konditionierung ganz zu verzichten, ist natürlich auch in der Ernährungstherapie unmöglich, da Konditionierung eine Form des Lernens ist. So konditioniere ich ja auch implizit durch die drei Basisvariablen (Wertschätzung, Empathie und Echtheit) der klientenzentrierten Gesprächsführung nach Rogers (WEINBERGER, S., 2013). Dadurch schaffe ich einen gewissen Gesprächsrahmen, der meine Klient*innen dazu einlädt, sich zu öffnen und besser zu verstehen. Die mit dieser Gesprächsführung verbundene Haltung führt außerdem dazu, dass meine Klient*innen Beziehungserfahrungen sammeln können, die ihnen im Leben außerhalb der Ernährungstherapie ebenfalls andere, hoffentlich bessere Erfahrungen ermöglichen.

Konditionierung – Fazit

Konditionierung ist allgegenwärtig. Es ist neutral gesehen eine Form des Lernens durch die Schmerz vermieden und Lust maximiert wird. Sie dient dem Überleben. Konditionierung funktioniert daher bei Tieren – von Meeresschnecken bis zu Menschen. Ivan Pavlov gehört zweifelsohne zu den bekanntesten Pionieren auf diesem Gebiet. Das Verhalten von Watson und Skinner, die die Konditionierung aus dem streng naturwissenschaftlichen in gesellschaftspolitische Bereiche wie das Bildungssystem und Marketing trugen, wirft jedoch auch ethische Fragen auf.

Konditionierung & ethische Fragen

Der Psychoanalytiker und Kinderarzt Donald Winnicott war der Meinung, dass jeder Mensch ein „Wahres Selbst“ in sich trüge. Also einen unveränderlichen Kern, der entweder vererbt oder bereits sehr früh, vielleicht schon pränatal erworben werde. Unter der Annahme, dass Winnicott richtig lag, stellt sich die Frage inwieweit Konditionierung von Menschen ethisch vertretbar ist. Dürfen wir einen Menschen nach unseren Vorstellungen formen und prägen, weil wir bestimmte Verhaltensweisen für „richtig“ halten und wenn ja, bis zu welchem Punkt?

Eine regelmäßige und intensive Selbstreflexion über die Herkunft unserer Definition von „richtig“ und „falsch“ scheint mir für jede Art von Therapeut*in und Berater*in obligatorisch zu sein.

Konditionierung in der Ernährungsberatung und -therapie

Abschließend habe ich mich der Frage gewidmet, ob das Setting von Ernährungsberatung und Ernährungstherapie Konditionierung aus ethischer Sicht beinhalten darf. Letztlich bin ich zu dem Schluss gekommen, dass Konditionierung als neutrales Lernen und Assoziieren gar nicht vermieden werden kann. Ein*e Klient*in macht zweifelsohne Erfahrungen mit ihrer*seiner Therapeut*in und kann diese möglicherweise dafür verwenden, dass eigene Verhalten so anzupassen, sodass es für sie*ihn gut ist. Als Ernährungstherapeut kann ihnen in diesem Rahmen auch Techniken der Konditionierung lehren werden, damit sie selbst entscheiden können, welche Gewohnheiten sie ausbilden wollen.

Quellen

  • KLOTTER, C. & HOEFERT, H.-W.: ‚Gesunde Lebensführung‘ – kritische Analyse eines populären Konzepts, 2011
  • MYERS, D. G.: Lehrbuch Psychologie, 3. Auflage, 2013
  • ROSA, H.: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehungen, 2019
  • WEINBERGER, S.: Klientenzentrierte Gesprächsführung, 14. Auflage, 2013
  • WINNICOTT, D. W.: Reifungsprozesse und fördernde Umwelt, 3. Auflage, 2010