10 Fragen zur Ernährungspsychologie

J. Jaschinger Ernährungspsychologe
Julian Jaschinger - 10 Fragen zur Ernährungspsychologie

10 Fragen an Julian Jaschinger

Im Laufe der Zeit ist mir in Gesprächen gehäuft ein Bild von Ernährungsberatung und -therapie begegnet, von dem ich mich distanzieren möchte. Das Gehörte hat mir vor Augen geführt, wie wichtig es mir ist, möglichst genau zu erklären, wie ich Ernährungspsychologie verstehe und wie meine Arbeit als Ernährungstherapeut aussieht.
Immer wieder werden mir Fragen zu meiner Arbeitsweise gestellt, die ich im folgenden versucht habe, in „10 Fragen zur Ernährungs­psychologie“ nach bestem Wissen und Gewissen zu beantworten.

Frage: Sie sind „Ernährungspsychologe“ – was ist das genau?

Antwort: Als Ernährungspsychologe verstehe ich das Thema „Essen“ als einen elementaren Teil des Lebens, der nicht von anderen Teilbereichen der menschlichen Psychologie getrennt betrachtet werden kann.


F: Was bedeutet das für Ihre Arbeit?

A: Da jede Beratungssequenz so individuell ist wie meine Klient*innen, kann ich die Frage am ehesten beantworten, wenn ich sage, was meine Arbeit nicht ist. Sie ist keine klassische Ernährungsberatung im Sinne eines normativen „Du darfst“ und „Du darfst nicht“.


F: Warum ist es Ihnen so wichtig, keine klassische Ernährungsberatung zu machen?

A: Nun, in meinen Augen ist die klassische Ernährungsberatung, also normative Wissensvermittlung, von Beginn an zum Scheitern verurteilt, weil sie elementare Grundbedingungen der menschlichen Psychologie missachtet.


F: Welche elementaren Grundbedingungen wären das?

A: Zum einen das Thema Autonomie und zum anderen das Thema Liebe bzw. Verbundenheit.


F: Das klingt tatsächlich nach sehr elementaren Grundbedingungen. Was läuft hier Ihrer Ansicht nach bei der klassischen Ernährungsberatung falsch?

A: Beginnen wir beim Thema Liebe und Verbundenheit: Kleine Babys kommen so „unfertig“ auf die Welt, dass sie ohne die Liebe/Fürsorge ihrer engsten Bezugspersonen nicht ansatzweise überleben könnten. Sie könnten sich nicht einmal ernähren, geschweige denn schützen. Die Brust der Mutter ist somit einerseits Schutzraum als auch der Ort, an dem das Baby Nahrung erhält. Geliebt und genährt werden ist für das kleine Baby somit ein und dasselbe. Außerdem ist Muttermilch leicht süßlich, was den Griff zur Schokolade bei dem (unerfüllten) Bedürfnis nach Nähe und Geborgenheit verständlich werden lässt.
Wenn Ernährungsberater*innen dann normative Ernährungsregeln aufstellen, ohne die Grundbedürfnisse ihrer Klient*innen zu verstehen, ist die Zusammenarbeit zum Scheitern verurteilt. Deswegen braucht es Ernährungspsychologie!


F: Das leuchtet ein. Und was hat es mit der Autonomie auf sich?

A: Nach einer gewissen Zeit interagieren Babys zunehmend ausdrucksstärker und variabler mit ihrer Umwelt. Das zeigt sich auch daran, dass sie beginnen andere Nahrung zu sich zu nehmen als die Muttermilch. In dieser Entwicklungsphase entfaltet das heranwachsende Kleinkind allmählich das Bedürfnis, seine eigene Autonomie zu entdecken und damit herumzuexperimentieren. Es presst die Lippen zusammen, wenn der Löffel mit Brei kommt oder spuckt diesen wieder aus.
So kann es das erste Mal entscheiden wann, wie und vor wem es die Grenzen seines eigenen Selbst setzt oder lockert.


F: Nachvollziehbar, aber wie steht das mit Ernährungsberatung und -therapie in Verbindung?

A: Nun, wenn uns jemand sagt, was wir wann und wie essen sollen, greift er damit unsere Autonomie an. Als Reaktion fährt tief in unserem Unbewussten eine Mauer mit der Aufschrift: „Du hast mir gar nichts zu sagen“ hoch. Je stärker Ernährungsberater*innen gegen diese Grenzen der Autonomie ankämpfen, desto stärker werden die Grenzen des eigenen Selbst verteidigt. Notfalls mit Waffen, Teer und Federn.


F: Das klingt mittelalterlich. Welche Waffen werden denn dann aufgefahren?

A: Oh, hier sind Menschen kreativ. Meistens ist es jedoch auf die eine oder andere Weise Reaktanz.


F: Reaktanz?

A: Ja, so werden in der Psychologie Verhaltensweisen genannt, die davon motiviert sind, eingeengte oder eliminierte Freiheitsspielräume wiederzugewinnen. Zum Beispiel durch vordergründigen Gehorsam und hintergründige Torpedierung der „Absprachen“.
So könnte ein Klient hoch und heilig versprechen, ab jetzt auf Schokolade zu verzichten, doch sobald er aus dem Beratungsraum tritt, kauft er sich ein großes Stück Schokoladentorte und genießt seine Freiheit in vollen Zügen.


F: Das klingt destruktiv. Wie lässt sich so etwas denn vermeiden oder besser machen?

A: Die Aufgabe eines guten Ernährungstherapeuten besteht in meinen Augen darin, das Duell der Reaktanz zu vermeiden und stattdessen zusammen mit seinen Klient*innen an einem gemeinsam definierten Problem zu arbeiten. Dafür benötigt es eine Beziehung auf Augenhöhe. Für mich ist jede*r Klient*in selbst die*der Expert*in für das eigene Leben. Ernährungspsychologie bedeutet auch, seine eigenen Grenzen anzuerkennen – ich bin nicht zwangsweise gesünder als mein Gegenüber und kann als Therapeut nicht eigenständig heilen, sondern lediglich begleiten und unterstützen.


ES IST DIE BEZIEHUNG, DIE HEILT.
– CARL R. ROGERS –