Qualifizierte Ernährungsberatung

Qualifizierte Ernährungsberatung

Qualifizierte Ernährungsberatung

Für die meisten Menschen klingt Ernährungsberatung nicht besonders verführerisch. Verständlich. Essen ist immerhin eine private Angelegenheit und darüber möchte man nicht mit jedem sprechen. Wenn sich Menschen entscheiden, über Privates zu sprechen, dann mit jemandem, zu dem sie eine gute Beziehung pflegen. Empirisch hat sich die zwischenmenschliche Beziehung als das wichtigste Element eines erfolgreichen Beratungsverlaufs erwiesen. In diesem Blogbeitrag möchte ich das komplexe Thema „qualifizierte Ernährungsberatung“ aus verschiedenen Blickwinkeln betrachten. Viel Spaß beim Lesen oder Hören.

Anmerkung:

Dieser Blogbeitrag bezieht sich ausschließlich auf Eins-zu-Eins-Beratungssituationen. Wörtliche Zitate sind in diesem Blogbeitrag dadurch von anderen Hervorhebungen zu unterscheiden, dass sie in Anführungszeichen gesetzt sind. Zudem sind bei direkten Zitaten die Autor*innen mit aufgeführt.

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1 Qualifizierte Ernährungsberatung

Was ist qualifizierte Ernährungsberatung?

Zuerst einmal benötigen wir eine gewisse Begriffsklärung, um überhaupt verständlich zu machen, worüber ich hier sprechen möchte. Denn es gibt keinen Schutz für die Qualifikationen von Ernährungsfachkräften, die in der Ernährungsberatung und Ernährungstherapie tätig sind. Deswegen gibt es hinter dem Namen „Ernährungsberatung“ große Unterschiede hinsichtlich der Qualität der verfügbaren Angebote. Gerade im Zeitalter des Internets benötigt man daher schon eine gewisse Grundexpertise, um seriöse und unseriöse Angebote auseinanderhalten zu können. 

Qualifizierte Ernährungsberatung ist in den letzten Jahren ein Politikum erster Klasse geworden.

Ernährungsberatung nach § 20 SGB V

Ernährungsberatung ist als sogenannte „Kann-Leistung“ im deutschen Sozialgesetzbuch eingetragen. Hier wird eine gewisse Qualifikation der Anbieter*innen vorausgesetzt. Letztlich ist aber bislang nicht einheitlich geregelt, in welchem Ausmaß Krankenkassen die qualifizierte Ernährungsberatung zu bezuschussen haben. Dadurch ergeben sich große Unterschiede für die Ratsuchenden. Während manche Betriebskrankenkassen bis zu zehn einstündige Termine vollständig übernehmen, bezahlen die meisten Ersatzkassen lediglich einen Bruchteil von maximal fünf Sitzungen.

Grundqualifikationen

Um Ernährungsberatung ausüben zu dürfen und sich Ernährungsberater*in nennen zu dürfen, benötigen Menschen in Deutschland nicht mehr als einen Entschluss. Dabei spielt es keine Rolle, wie viel Grundlagenwissen bereits erworben wurde. Das ist ein herbes Problem, welches in ernährungswissenschaftlichen Fachkreisen sehr präsent ist. Für Ratsuchende ist es wichtig, sich über den Unterschied zwischen Ernährungsberatung mit dem Zusatz „§ 20 SGB V“ und anderen Angeboten bewusst zu werden. Die Grundqualifikationen für diesen kurzen Zusatz enthalten mehrere tausend Stunden Unterricht. Zugelassen für den Zusatz „§ 20 SGB V“ sind:

„Diätassistent*innen, Ernährungsmediziner*innen und Absolvent*innen eines Studiums der Ökotrophologie, Ernährungswissenschaft oder eines fachverwandten Studiengangs entsprechend der DGE-Zulassungskriterien.“ – Dr. Sabine Schmidt; Ernährungsumschau vom 12.06.2019 

Ernährungsberatung vs. Jura

Mal angenommen, ich würde morgen früh aufwachen und urplötzlich merken, dass ich Jura schon immer total interessant fand. Dann würde ich aufstehen und mir bei Facebook, Instagram, Twitter und TikTok einen Account anlegen. Über diese Accounts würde ich dann Postings absetzen, die so wirken, als verstünde ich etwas vom Thema. Zum Beispiel würde ich Passagen aus Gesetzestexten kopieren und diese dann mit meinen eigenen Gedanken versetzen. Dann würde ich ein paar Selfies aus dem Amtsgericht vor Ort posten und so meine Rechtsberatung bewerben. #jura #gericht #amtsgericht 

Es würde vermutlich keine Woche dauern, bis ich juristisch belangt werden würde.

Qualifizierte Ernährungsberatung

Das beschriebene Verhalten klingt im Falle von Jura im besten Falle komödiantisch. Im schlechtesten Falle nach völliger Geistesumnachtung. Leider ist das nur ein halber schlechter Witz. Denn im Bereich der Ernährungsberatung läuft es genauso. Da gibt es Menschen, die lernen über mindestens drei Jahre in Vollzeit, was die Ernährungswissenschaften ausmachen. In komplexen naturwissenschaftlichen Modulen wie Chemie, Ernährungsphysiologie und Physik müssen Prüfungen abgelegt werden. Es werden seitenlange, naturwissenschaftliche Abschlussarbeiten verfasst und dann soll man u.a. mit unqualifizierten Influencer*innen konkurrieren. 

#Aufschrei Ernährungsberatung

Qualifizierte Ernährungsberatung vs. Ernährungstherapie

Von der qualifizierten Ernährungsberatung abzugrenzen, zumindest begrifflich, ist der Bereich der Ernährungstherapie. Denn Ernährungstherapie ist im § 43 Sozialgesetzbuch V zu finden. Ja, ich stimme zu- das Ganze scheint komplizierter als Quantenphysik zu sein. Letztlich besteht der entscheidende Unterschied darin, dass die Ernährungstherapie (nach § 43) von Ärzt*innen verschrieben werden muss. Dafür gibt es spezielle Notwendigkeitsbescheinigungen. Manchmal wird jedoch auch eine ärztliche Überweisung genutzt. 

Notwendigkeitsbescheinigungen für Ernährungstherapie sind budgetneutral. Das ist für Ärzt*innen ein wichtiges Kriterium.

Künstliche Abhängigkeiten  

Beim darüber Schreiben fällt mir noch einmal extrem auf, wie hierarchisch dieses System aufgebaut ist: 

  • Indikationen, die Menschen in die Kategorien „gesund/krank“ einteilen und darüber urteilen, ob etwas Ernährungsberatung oder Ernährungstherapie ist. 
  • Ärzt*innen, die ihr okay geben müssen, damit etwas über § 43 SGB V als Ernährungstherapie abgerechnet werden kann. 
  • Krankenkassen, die mehr oder weniger frei darüber entscheiden können, in welcher Höhe sie die erbrachten Leistungen bezuschussen. 
  • Bezuschussungen, die in vielerlei Hinsicht eine Beleidigung an den Berufsstand der qualifizierten Ernährungsberatung sind. Die Ersatzkrankenkassen schreiben übrigens gerne Sätze wie: 

„Wir bezuschussen die Ernährungsberatung mit bis zu 85 %. Das bedeutet, wir übernehmen bis zu 45 € für das Erstgespräch und bis zu 30 € für bis zu vier Folgegespräche.“ – Aus dem Schreiben einer gesetzlichen Krankenkasse 

Zeitliche Vorgaben – Erstgespräch

Durch die Bezuschussung der Ersatzkrankenkassen wird uns Ernährungsberater*innen im gewissen Maße vorgeschrieben, wie lange unsere Termine zu gehen haben. Dabei sind 45 € für das Erstgespräch lächerlich gering. Immerhin soll in diesem Ersttermin eine Anamnese gemacht und gleichzeitig eine Beziehung aufgebaut werden. Eine Anamnese einfach als Fragenkatalog abzuarbeiten macht den Aufbau einer guten Beziehung jedoch sehr schwer. Um beides in Einklang zu bringen, benötigt man vor Allem eins: Zeit.

Beziehungen und Verhaltensänderungen brauchen Zeit. Viel Zeit.

Zeitliche Vorgaben – Folgegspräche

Aber obwohl dieser Ersttermin bereits unterfinanziert ist, wird es bei den Folgeterminen noch gravierender. Insbesondere wenn man schaut, dass Psychotherapie bis zu 300 Stunden lang vollständig von den gesetzlichen Krankenkassen übernommen wird. Die Bezuschussung von 30 € pro Folgegespräch lässt darauf schließen, dass qualifizierte Ernährungsberatung innerhalb von drei Zeitstunden (1 x 60 Minuten, 4 x 30 Minuten) alles Wissenswerte zu vermitteln hätte. Das wirkt tatsächlich so, als wenn Ernährungsberater*innen sich einfach drei Stunden lang den Mund fusselig reden sollten und der aufgeklärte Ratsuchende nun alles verändert. 

Wissen ≠ Handeln

Wenn sich berufspolitische Entscheidungen entlang des wissenschaftlichen Fortschritts orientieren würden, wäre die Situation in der qualifizierten Ernährungsberatung wahrscheinlich völlig anders. So wissen die Neurowissenschaften, dass es im Gehirn getrennte Bereiche für die Speicherung und Konsolidierung von Fakten- und Erfahrungswissen gibt. Sonst wäre es ja auch unerklärlich, dass kleine Kinder bereits zu komplexen motorischen Fähigkeiten in der Lage sind, bevor sie dem Sprachverständnis mächtig werden. Wissen und Handeln sind eben nicht dasselbe. Ansonsten würden wir keine Psychotherapie, kein Raucherentwöhnungstraining, ja nicht mal Training im Allgemeinen benötigen. 

Eine kurze Lektüre des Wissens über ein Thema macht jedoch bekannter Weise keine Meisterschaft.

Qualifizierte Ernährungsberatung und Konkurrenz

Im Internet bekommt man kostenlose Ernährungspläne hinterhergeworfen. Oftmals essgestörte Fitnessmodels geben angebliche Patentrezepte an die Hand und zerren „erfolgreich“ Diätende vor die Kamera. Dort berichten diese dann von ihren Wahnsinnsergebnissen und zwar exakt vor dem Zeitpunkt, wo der Jojo-Effekt wieder einsetzt. Das ist natürlich ein gewaltiges Problem, welches wir Ernährungsberater*innen nicht selten in der qualifizierten Ernährungsberatung und Ernährungstherapie aufzufangen bzw. abzufedern haben. 

Erfolg vor der Kamera, Leid dahinter

Aber von den Problemen, die diese Crash-Diäten sowohl körperlich als auch psychisch hinterlassen, bekommt man auf Social-Media kaum etwas mit. Die Klient*innen verlieren nicht nur ihr Vertrauen in die Branche der Ernährungsberatung, sondern besonders in ihren eigenen Körper. Es drängt sich schnell die Frage auf, warum man selbst nicht so toll aussehen kann, wie das eigene Vorbild auf Instagram. Die ganzen Techniken dahinter bleiben für die Social-Media-Nutzer*innen verborgen. Aber wie der Verhaltensökonom und Nobelpreisträger Daniel Kahneman über kognitive Verzerrungen und den sogenannten „Halo-Effekt“ herausgefunden hat: 

„WYSIATI – What you See is all there ist. – Was Du siehst, ist alles was da ist.“ – Daniel Kahneman

Qualifizierte Ernährungsberatung – Wer hat die Verantwortung?

Es ist natürlich verführerisch auf die Influencer*innen zu schimpfen. Aber das ändert nichts an den Verhältnissen. Somit liegt die Verantwortung bei uns qualifizierten Ernährungsberater*innen die digitale Vernetzung und Sichtbarkeit zu verbessern. Aber auch bei den Berufsverbänden, die dafür verantwortlich sind, unsere Interessen zu vertreten und politisch zu unseren Gunsten zu agieren. Wir müssen jedoch auch systematisch aufzeigen, wieso wir unser Geld wert sind. Sonst ist es nur allzu verständlich, dass potenzielle Klient*innen sich fragen:

Warum sollte ich denn 80 € oder mehr für eine Stunde Ernährungsberatung oder Ernährungstherapie bezahlen, wenn ich das Wissen auch umsonst bekommen kann? 

Ist qualifizierte Ernährungsberatung ihr Geld wert?

Bei dieser Fragestellung könnte man sich jetzt natürlich auf das umfangreiche Wissen durchs Studium berufen. Allerdings scheint dies auf einen Irrweg zu führen. Denn die Berufung auf überlegenes Wissen ist eine äußerst schwammige Angelegenheit. Denn erstens ist Wissen überall im Internet verfügbar und das meist kostenlos. Zweitens ist Wissen an sich etwas, das man in Frage stellen kann. Denn wer weiß denn, dass das was wir heute glauben zu wissen, morgen noch aktuell ist. Hier liegt ja gerade die Krux des Falsifikationsbegriffs von Karl Popper. 

Die deduktive Überprüfung einer wissenschaftlichen Theorie ist niemals abgeschlossen.

Ernährungswissenschaftliches Wissen

Die Strategie, sich auf Wissen zu berufen, um die Kosten für qualifizierte Ernährungsberatung und Ernährungstherapie zu rechtfertigen, steht somit auf wackeligen Beinen. Insbesondere, weil ernährungswissenschaftliches Wissen, das sich auf alle anwenden ließe, die Individualität der Menschen außer Acht lässt. Die Evidenz für ernährungswissenschaftliche, normative Empfehlungen ist extrem dünn. Sie lässt sich letztlich auf eine recht kurze Liste reduzieren und diese könnte noch weiter zusammengerafft werden:

  • Moderate Salzzufuhr
  • Ballaststoffreiche und zuckerarme Ernährung
  • Eher ungesättigte als gesättigte Fettsäuren
  • Mehr pflanzliche als tierische Produkte konsumieren
  • Abwechslungsreich essen
  • Natürliche Lebensmittel gegenüber verarbeiteten Produkten bevorzugen

Qualifizierte Ernährungsberatung ist nur minimale Wissensvermittlung

Nun könnte man anmerken, dass für die Vermittlung dieses Wissens keine qualifizierte Ernährungsfachkraft vonnöten sei. Stattdessen könnte man einfach den Ernährungskreis und „Die 10 Regeln der DGE“ in einer groß angelegten Werbekampagne verbreiten. Nur weiß jede*r halbwegs erfahrene Ernährungsberater*in und Ernährungstherapeut*in, dass die Vermittlung von reinem Ernährungswissen zu Reaktanz führt und nicht zu langfristiger Verhaltensänderung.

Wissensvermittlung ist nur ein marginaler Anteil der meisten qualifizierten Ernährungsberatungen und muss äußerst achtsam geschehen.

Ratsuchende sind nicht dumm

Letztendlich ist die reine Wissensvermittlung eine Beleidigung der Ratsuchenden. Als wenn die aufgeklärten Verbrauch*innen von heute nicht das Internet bemühen könnten. Es ist kein Mehrwert, Menschen zu erklären, was sie bislang alles falsch gemacht haben und den meisten Ratsuchenden fehlt kein Ernährungswissen. Insbesondere dicke und/oder essgestörte Menschen kennen sich meist ernährungswissenschaftlich bestens aus. Es hilft daher keineswegs, wenn sie auf die Normwerte des Body-Mass-Indexes und die Ernährungspyramide hingewiesen werden. 

Wer Ernährungsberatung als die Vermittlung von normativem Wissen versteht, braucht sich nicht über Influencer*innen zu erheben. 

Qualifizierte Ernährungsberatung ist Psychotherapie für Gesunde

Wenn Ernährungsberatung und Ernährungstherapie nur zu einem marginalen Anteil aus Wissensvermittlung besteht, stellt sich natürlich die Frage, warum wir Ernährungsberater*innen dann unser Geld wert sind. Die Antwort liegt nicht in überlegenem Wissen, sondern in der Beziehung zwischen den beiden beteiligten Menschen. Denn qualifizierte Ernährungsberatung und Ernährungstherapie folgen denselben Grundsätzen, die auch in anderen psychosozialen Berufen gelten. 

„Die Beziehung heilt, die Beziehung ist alles.“ – Carl R. Rogers

Grundsätze der qualifizierten Ernährungsberatung

Für Ernährungsberater*innen gelten daher ethische Grundsätze, auf die ich an anderer Stelle bereits kurz eingegangen bin. Die Hauptaufgabe besteht im einfühlsamen Zuhören. Denn bei der qualifizierten Ernährungsberatung geht es darum, einen Raum zu öffnen. Einen Raum, der im psychischen Sinne zwischen der beratenden und der ratsuchenden Person eröffnet wird. In diesem Raum bekommt die ratsuchende Person die Möglichkeit, sich selbst so zu akzeptieren, wie sie ist. Nur durch diese Akzeptanz des gegenwärtigen Zustands entsteht die Möglichkeit zur zukünftigen Veränderung. 

Daher sind Wertschätzung, Empathie und Echtheit die Grundsätze von qualifizierter Ernährungsberatung.

Gesprächsführung in der qualifizierten Ernährungsberatung

Nun gelangen wir in den Bereich, wo sich die Spreu vom Weizen trennt. Wo Influencer*innen oder jemand, der sich per Wochenendseminar als Ernährungsberater*in ausbilden lässt, plötzlich abschaltet. Denn einfühlsames Zuhören will gelernt sein. Für Empathie und bedingungslose Wertschätzung benötigt man eine gewisse innere Einstellung. Und für Echtheit benötigt man eine fachliche Grundexpertise. Um sich in Beratungssituationen nicht aus der Ruhe bringen zu lassen, ist ein ernährungs- und naturwissenschaftliches Grundverständnis die Basis. 

Ernährungswissenschaftliche Expertise ist das Fundament der Ernährungsberatung, nicht der Inhalt.

Klientenzentrierte Gesprächsführung

Der bekannte humanistische Psychologe Carl R. Rogers (1902 – 1987) entwickelte einen Ansatz, der heute als klientenzentriertes Konzept in alle psychosozialen Berufe Einzug gefunden hat. Wer beraten möchte und nicht hinterm Mond lebt, hat zumindest schon mal von Carl Rogers und seinem klientenzentrierten Konzept gehört. Aber einmal von ihm gehört zu haben, macht noch keine*n gute*n Ernährungsberater*in. Die klientenzentrierte Gesprächsführung will studiert, verinnerlicht und geübt werden. Als Ziel hat Rogers besonders die Aktivierung der inneren Ressourcen von Klient*innen betont.

Ernährungsberatung und Ernährungstherapie sind Hilfe zur Selbsthilfe.

Weitere Formen der Gesprächsführung

Carl. R. Rogers ist somit der Vater der Gesprächsführung. Von seinem philosophischen Ansatz inspiriert, fingen auch andere Psycholog*innen an, Gesprächführungstechniken zu entwickeln. Somit gibt es mittlerweile mehrere sinnvolle, evidenzbasierte Formen der Gesprächsführung. Bekannte Beispiele stellen die motivierende Gesprächsführung von Miller und Rollnick sowie die gewaltfreie Kommunikation nach Marshall B. Rosenberg dar. 

Gesprächsführung ist eine Wissenschaft für sich. Sich immer wieder darin zu üben und fortzubilden ist für Angehörige psychosozialer Berufe ein Muss.

Fließende Grenze zwischen Ernährungsberatung und Psychotherapie

Die Grenze zwischen Ernährungsberatung und Psychotherapie ist somit fließend. Denn beim Thema „qualifizierte Ernährungsberatung“ geht es, wie schon erwähnt, kaum um Wissensvermittlung. Viel mehr geht es um Essen. Und Essen ist eben ein höchst emotionales Thema. Eng verbunden mit frühkindlichen Erfahrungen, Machtbeziehungen und Genusserleben. Jemandem zu sagen, er solle doch einfach nur die Hälfte essen, ist in etwa so, als ob man einem Menschen seinen Harndrang ausreden wollte. Ein lächerlicher Versuch. 

Essen ist Kommunikation

In ihrem Buch „Essen ist Kommunikation“ geht Dr. Ines Heindl, eine Art Popstar der Ernährungswissenschaften, darauf ein, dass Essen eben das ist. Kommunikation. Nicht nur lässt sich über das Essen kommunizieren, sondern auch beim Akt des Essens selbst. Ursprünglich wird die Kommunikation beim Essen das absolute Highlight unserer Vorfahren gewesen sein. An Tagen mit guten Jagderfolgen ist das gemeinsame Zusammensitzen beim Essen am Lagerfeuer vermutlich der Kitt gewesen, der soziale Gemeinschaften erst ermöglichte.

Qualifizierte Ernährungsberatung sieht Essen als soziales Element

Wenn wir nicht genug zu essen haben, brauchen wir keine Ernährungsberatung. Darüber hinaus ist bei einem langfristigen Mangel an Nahrungsmitteln kaum damit zu rechnen, dass unsere zivilisatorischen Bande ihre Beständigkeit behalten würden. Denn in Zeiten des Hungers und des Mangels wird das Konkurrenzprinzip auf kurz oder lang stärker als der Zusammenhalt von Gemeinschaften. Somit ist unsere Fülle an Nahrungsmitteln ein Grund zu feiern, sie sichert unsere Zivilisation. Diese Zusammenhänge zeigen sich besonders im direkten sozialen Miteinander.

Liebe geht durch den Magen

Das Sprichwort ist allgemein geläufig. Essen und soziale Beziehungen stehen in einem sehr engen Zusammenhang. Das zeigt sich in vielen Belangen des Alltagslebens. Lernen wir jemanden kennen, gehen wir vielleicht einen Kaffee miteinander trinken. Verstehen wir uns wirklich gut, gehen wir zusammen essen. Genauso, wenn es etwas zu feiern gibt. Und wenn wir jemanden nach Hause zum Kochen einladen, ist es entweder ein Familienmitglied bzw. ein*e gute*r Freund*in oder wir alle wissen worauf es vermutlich hinausläuft… 

Infragestellung der Lebenssituation

Essen und qualifizierte Ernährungsberatung sind somit enorm eng mit der jeweiligen, individuellen Lebenssituation verknüpft. Mit den sozialen Beziehungen, Genusserfahrungen und dem Selbstverständnis des jeweiligen Menschen. Qualifizierte Ernährungsberater*innen müssen sich dieser Zusammenhänge bewusst sein und behutsam als Hilfe zur Selbsthilfe agieren. Denn sowohl Essen als auch unser Körper sind höchst empfindliche Themen. Hier sind Empathie und Taktgefühl gefragt, keine festen Regeln. Ist man als Ernährungsberater*in zu offensiv und stellt moralische Ansprüche an seine Klient*innen geht die Ernährungsberatung schief. 

Somit ist jede psychosoziale Situation, inklusive qualifizierter Ernährungsberatung, individuell und benötigt Zeit.

Qualifizierte Ernährungsberatung und Gesundheit

Die Beziehung zwischen Körper, Psyche und Gesundheit eindimensional zu betrachten ist naiv. Wer glaubt, dass man ausschließlich zu gesunden Lebensmitteln greifen sollte und ein schlanker, muskulöser Körper zwangsweise gesund seien, sollte sich mal mit einem orthorektischen Menschen unterhalten. Bei dieser Erkrankung wird das unstillbare Verlangen nach Gesundheit eben zur Krankheit. Orthorexie ist ein Phänomen, welches wir Ernährungsberater*innen und Psycholog*innen als Essstörung bezeichnen. Der Trend, dass Essstörungen in unserer Gesellschaft zuzunehmen scheinen, sollte uns dringend zu denken geben.

Qualifizierte Ernährungsberatung ist somit die kleine Schwester der Psychotherapie.

Qualifizierte Ernährungsberatung und Essstörungen

Essstörungen sind tatsächlich nichts, womit die Betroffenen normalerweise hausieren gehen. Insbesondere die Bulimia nervosa wird meist ewig geheim gehalten. Aber auch die bereits angesprochene Orthorexia Nervosa sowie Anorexia Nervosa (Magersucht) und Binge-Eating-Disorder sind üblicherweise nicht das Thema beim ersten Smalltalk. Stattdessen, darauf weist Prof. Dr. C. Klotter hin, sind Essstörungen zunehmend Teil unseres kulturellen Programms. Also deutlich normaler als es uns vielleicht lieb wäre.

Der gesellschaftlich ideale Körper ist quasi zwangsweise an gestörtes Essverhalten oder Essstörungen gebunden.

Essstörungen und Diäten

An dieser Stelle schließt sich ein Kreis. Die Frage, warum wir Ernährungsberater*innen unser Geld wert sind, lässt sich an dieser Stelle gut beantworten. Es ist nicht unser überlegenes Wissen. Auch die Anamnese und die Interpretation von Laborwerten sind nur am Rande dieser Begründung. Die fundierte Begründung liegt darin, dass Diäten und unsachgemäße Ernährungstips gefährlich sind. Diäten führen Bekannterweise zum Jojo-Effekt. Was weniger bekannt ist, ist der enge Zusammenhang zwischen Diäten und der Entstehung von Essstörungen.

Der gesellschaftliche Schaden schlechter Ernährungsberatung ist immens und die Stellen für Psychotherapie sind voll. Also wer soll’s denn richten?

Qualifizierte Ernährungsberatung ist Individualisierung

Qualifizierte Ernährungsberatung ist für diejenigen, die versuchen im Dschungel der Ernährungsempfehlungen, Körpernormen und widersprüchlichen Ansprüchen des modernen Lebens zurecht zu kommen. Essen wird heute zur Ersatzreligion und ersetzt den Nihilismus den der Tod Gottes aus Nietzsches Philosophie hinterlassen hat. Wenn unsere Kultur uns zur Individualisierung und Selbstverwirklichung nötigt, sollte jeder Mensch Zugang zu Unterstützung bei dem Unterfangen bekommen sich zu individualisieren. Unabhängig von finanzieller Situation, ethnischer Herkunft oder Sexualität. Individualisierung bedeutet jedoch auch Enttäuschung und das Eingeständnis der eigenen und gesellschaftlichen Grenzen. 

Bei qualifizierter Ernährungsberatung geht es daher weniger um Transformationen als um Selbstsorge.

Qualifizierte Ernährungstherapie ist Heilung

Aber natürlich haben Ernährung, Essen und Genuss auch das Potenzial zu heilen. Jedoch nicht im Sinne von Superfoods, Diäten und Körpertransformationen. Bei qualifizierter Ernährungsberatung und Ernährungstherapie geht es um das Verstehen des eigenen Körpers, Verhaltens und um Selbstsorge. Wir Ernährungsberater*innen können keine Wunder vollbringen, aber wir können Menschen dabei helfen ihren eigenen Weg zu finden. Durch diesen individuellen Weg können Menschen lernen, sich auf dem Gesundheits-Krankheits-Kontinuum in Richtung Heilung zu bewegen. Unabhängig davon, ob der Prozess als qualifizierte Ernährungsberatung oder Ernährungstherapie bezeichnet wird.

„Eure Nahrungsmittel sollen eure Heilmittel sein und eure Heilmittel sollen eure Nahrungsmittel sein.“ – Hippokrates von Kos (460 – ca. 377 v. Chr.)

Gesundheits-Krankheits-Kontinuum

Aaron Antonovsky hat den Begriff der Salutogenese geprägt. Ein Modell, dass im Gegensatz zur Pathogenese versucht, Gesundheit zu denken und zu greifen. Antonovsky war der Meinung, dass Gesundheit und Krankheit kein Gegenteilspaar bilden, sondern Endpunkte auf einem gemeinsamen Kontinuum darstellen. Außerdem muss in die Betrachtung sowohl der Körper als auch die Psyche und die Lebensumstände mit einbezogen werden. Qualifizierte Ernährungsberatung und Ernährungstherapie kann Menschen helfen, die „zu gesund“ für Psychotherapie sind, sich aber trotzdem Unterstützung auf ihrem individuellen Weg wünschen. 

Zwei-Klassen-Medizin

Sowohl bei qualifizierter Ernährungsberatung als auch bei der Ernährungstherapie kommen wir an einen gesellschaftlich höchst relevanten Punkt. Denn hier wird eine Zwei-Klassen-Medizin par excellence praktiziert. Nicht genug, dass es private und gesetzliche Krankenkassen gibt. Von den gesetzlich Versicherten wird bislang erwartet, dass sie in drei Stunden Beratungszeit das vermittelte ernährungswissenschaftliche Wissen aufsaugen und anschließend in einem stressigen Alltag alleine umsetzen. Diese Forderung ist lächerlich und abwegig. 

Es ist höchste Zeit, dass qualifizierte Ernährungsberatung gesetzlich geschützt und angemessen finanziert wird.

Qualifizierte Ernährungsberatung – Fazit

Ernährungsberatung befindet sich ebenfalls auf einem Kontinuum. Zwischen schädlich und hilfreich lassen sich verschiedene Kriterien definieren. Einen Einstieg soll dieser Blogbeitrag liefern. Gütekriterien von qualifizierter Ernährungsberatung und Ernährungstherapie sind:

  • die Beziehung zwischen ratsuchender und beratender Person.
  • Die Einstellungen und Grundqualifikationen der beratenden Person.
  • Zeit, viel Zeit.
  • Gesprächsführungskompetenzen und 
  • schlussendlich auch die Ernährungskompetenz der beratenden Person.

Kurz gesagt: Qualifizierte Ernährungsberatung ist so viel mehr als Wissensvermittlung. Bei Qualifizierter Ernährungsberatung und Ernährungstherapie geht es um psychosoziale Prozesse.

Quellen:

Internetquellen:

https://www.sozialgesetzbuch-sgb.de/sgbv/20.html 

https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/praevention__selbsthilfe__beratung/praevention/praevention_leitfaden/Leitfaden_Pravention_2020_barrierefrei.pdf 

https://www.ernaehrungs-umschau.de/print-news/12-06-2019-woran-erkennt-man-qualifizierte-ernaehrungsberatung/

https://link.springer.com/chapter/10.1007%2F978-3-476-04743-4_4 

https://www.dge.de/presse/pm/dge-betont-bedeutung-wissenschaftlich-fundierter-ernaehrungsempfehlungen/ 

https://www.dge.de/wissenschaft/leitlinien/leitlinie-fett/?L=0 

https://www.dge.de/wissenschaft/leitlinien/leitlinie-kohlenhydrate/?L=0 

https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/ernaehrungskreis/?L=0 

https://www.dge.de/ernaehrungspraxis/vollwertige-ernaehrung/10-regeln-der-dge/ 

https://melaniekirkmechtel.de/wp-content/uploads/2018/04/20180406VDOE-STELLUNGNAHME_ZUM_SGE-2.pdf 

https://www.bzga-essstoerungen.de/habe-ich-eine-essstoerung/wie-haeufig-sind-essstoerungen/?L=0 

https://de.statista.com/statistik/daten/studie/28909/umfrage/in-krankenhaeusern-diagnostizierte-faelle-von-anorexie-und-bulimie/ 

https://www.ernaehrungs-umschau.de/print-news/15-05-2018-solidarisches-grundeinkommen-und-ernaehrungsberatung-aufschreiernaehrungsberatung/ 

https://www.tellerrandblog.de/75609-2/ 

https://www.jugendschutz-niedersachsen.de/wordpress/wp-content/uploads/2010/10/Diäten-Hofmann-Internet.pdf 

Weitere Quellen:

Daniel Kahneman – Schnelles Denken, Langsames Denken; 1. Auflage; 2017

Michel Foucault – Freiheit und Selbstsorge; Interview 1984 und Vorlesung 1982; 1985

Christoph Klotter – Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem; 1990

Christoph Klotter – Identitätsbildung über Essen, Ein Essay über „normale“ und alternative Esser; 2016

Sabine Weinberger – Klientenzentrierte Gesprächsführung – Lern- und Praxisanleitung für psychosoziale Berufe; 14. Auflage; 2013

Miller und Rollnick – Motivierende Gesprächsführung: Motivational Interviewing: 3. Auflage des Standardwerks in Deutsch, Ausgabe 4; 2015

Ines Heindl – Essen ist Kommunikation; 2016

Marshall B. Rosenberg – Gewaltfreie Kommunikation: Eine Sprache des Lebens; 2012

Mark F. Bear, Barry W. Connors, Michael A. Paradiso – Neurowissenschaften – Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie; 4. Auflage; 2018

David G. Myers – Psychologie; 3. Auflage; 2014