Gesunder Genuss – Ein Oxymoron?
Sündigen macht Freude. Im Genuss steckt der Aspekt der Grenzüberschreitung mit drin. Gesunder Genuss ist eine wahnhafte Vorstellung verkappter Ernährungspäpste, oder? Jede*r weiß, dass Karottensticks nicht die Chips vor dem Fernseher ersetzen können und auch, dass man aus einem Stück Obst nicht die selbe Befriedigung zieht, wie aus einem Stück Schokolade. Genuss ist demonstrierte Unabhängigkeit. Mit unserer Art zu genießen, zeigen wir Gevatter Tod würdevoll den Mittelfinger. Im heutigen Blogbeitrag fühlen wir dem (vermeintlichen) Oxymoron „Gesunder Genuss“ auf den Zahn.
Gesunder Genuss
Es stellt sich jedoch die Frage, ob wir Gevatter Tod automatisch näher kommen müssen, während wir ihm genussvoll den Stinkefinger zeigen. Schließen sich Genuss und Gesundheit aus? Tatsächlich geht die wissenschaftliche Forschung davon aus, dass positive Gefühle gesundheitsförderlich sind. Und echter Genuss löst zweifelsohne positive Gefühle aus. Ergo sum sollte Genuss zu Gesundheit beitragen (Vgl. METHFESSEL & SCHLEGEL-MATTHIES, 2010). Aber wie passt dies dazu, dass Genuss für viele Menschen mit Lebensmitteln oder Tätigkeiten assoziiert ist, die als gesundheitsabträglich gelten?
Kultur und (un)gesunder Genuss
Interessant ist, dass die Assoziation von Genuss mit ungesundem Verhalten keinesfalls kulturübergreifend gilt. In der französischen Esskultur beispielsweise stehen sich Genuss und Gesundheit psychisch deutlich näher als in der deutschen. Warum ist es gerade im Denken der Deutschen so fest verankert, dass wir unserer Gesundheit schaden müssten, wenn wir genießen wollen? Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas liefert einen guten Anhaltspunkt zum Weiterdenken: Nämlich, dass wir mit unserer Art zu genießen unsere Unabhängigkeit demonstrieren (LÉVINAS, 2002).
Aber können wir unsere Unabhängigkeit nicht potenziell auch mit gesundheitsförderlichen Verhaltensweisen demonstrieren?
Gesundheit und Krieg
Ich erinnere mich, dass die psychologische Unterschiedlichkeit zwischen dem deutschen und französischen Gesundheitsdenken im Hochschulzertifikat „Ernährungspsychologie“ zur Sprache kam. Zudem erinnere ich mich daran, in einem Text meines Professors Dr. Klotter gelesen zu haben, dass kriegerische Völker in der gesamten Geschichtsschreibung stets einen hohen Wert auf die Disziplin ihrer Bevölkerung gelegt haben (KLOTTER, 1990). Im Sinne von: Gesundheit und Fitness fürs Vaterland. Mit der Sonderklausel, das eigene Leben im Krieg für den Staat geben zu müssen, falls notwendig.
Widerstand durch Genuss
Nun könnte man, psychoanalytisch gesprochen, den Staat mit der Figur des Vaters assoziieren. Auf dieser Grundlage wäre es durchaus verständlich, umso stärker gegen den „Vater Staat“ aufzubegehren, je heftiger er sich gebärdet und je mehr er versucht Kontrolle über das eigene Leben auszuüben. Wenn Vater/Staat von seinen Kindern/Bürgern gesundheitsförderliches Verhalten fordert, wäre die effektivste Rebellion das genaue Gegenteil zu tun. Also Widerstand durch ungesundes Verhalten. Demonstration der eigenen Unabhängigkeit durch aktive Missachtung der Gesundheitsmaxime.
Könnte die Forderung nach Gesundheit der individuellen Gesundheit eher schaden, als ihr zu nützen?
Gesundheit – ob du willst oder nicht!
Gerade in Deutschland wurde in der Vergangenheit von den Bürgern strenge Disziplin und die Bereitschaft notfalls für Vater Staat zu sterben, gefordert. Wir leben zwar nicht mehr im dritten Reich und auch nicht in Preußen, aber die kulturellen Einflüsse sind noch immer erschreckend präsent. Auch heute noch fragen die offiziellen Empfehlungen der deutschen Fachgesellschaften nicht danach, ob jemand Eigeninteresse an seiner Gesundheit hat und wieso es evtl. nicht so ist. Es wird stillschweigend vorausgesetzt, dass der Wunsch nach Gesundheit ja wohl selbstverständlich sei.
Das Gesunder-Genuss-Paradox
Was wäre wohl, wenn Vater/Staat den Fokus nicht auf Gesundheitsnormen sondern auf die Förderung eines guten Lebens für alle legen würde? Ohne Hintergedanken, sondern einfach weil ein liebevoller Vater/Staat seinen Kindern/Bürgern ein gutes Leben von ganzem Herzen gönnt. Vermutlich würde sich dann nach und nach das „Gesunder-Genuss“-Paradoxon von selbst erledigen. Denn seien wir ehrlich: Ein gutes Leben möchte tendenziell jede*r. Ist es zu weit hergeholt, davon auszugehen, dass ein Mensch mit dem Gefühl ein gutes, selbstbestimmtes Leben zu führen, automatisch ein Eigeninteresse an seiner Gesundheit entwickelt?
Freiheit und Lebenstrieb
Ziehen wir noch eine weitere Idee hinzu. Diese stammt aus der Gehirnforschung und ich bin bei Dr. Gerald Hüther darauf gestoßen: Die psychologischen Grundbedürfnisse lassen sich auf den Drang zur Freiheit/Autonomie und den Wunsch nach Sicherheit/Verbundenheit reduzieren. Interessanterweise können auch Lebensmittel und Speisen einen Einfluss auf das Empfinden von Sicherheit nehmen (Vgl. METHFESSEL & SCHLEGEL-MATTHIES, 2010). Gleichzeitig kann durch den Genuss bestimmter Lebensmittel und Speisen auch Freiheit demonstriert und erfahren werden. Ob diese nun gesundheitsförderlich oder -abträglich sind, spielt dabei erstmal keine Rolle.
Wenn wir der Idee von Dr. Hüther folgen, ist gesunder Genuss kein Widerspruch per se.
Das Primat der Sicherheit
Eine Allgemeinplatz aus der Entwicklungspsychologie ist, dass Kinder unter den richtigen Umständen natürlicherweise dazu übergehen, aus der größtmöglichen Sicherheit im Schoß der Mutter immer wieder und weiter hinauszutreten, um die eigene Freiheit in der Welt zu erkunden und zu erweitern. Der Entwicklungsprozess des dafür notwendigen Urvertrauens ist jedoch höchst vulnerabel. Denn wenn das Kind erlebt, dass es beim Erkunden der Freiheit, seinen sichere Hafen einbüßt, verzichtet es lieber auf die Freiheit. Freiheit ist ein Privileg. Sicherheit in Form von Verbundenheit ist das Primat. Überlebenswichtig. Unverzichtbar.
Freud und der Thanatos
Sicherheit und Freiheit haben also unterschiedliche Gewichtung in Bezug zum Überleben. Sigmund Freud schrieb immer wieder über ein bis heute umstrittenes Thema: Den Todestrieb (Thanatos). Laut Freud wohnt sowohl der Thanatos als auch sein Gegenimpuls, der Eros (Liebes- und Lebenstrieb) jedem Menschen inne. Fraglich ist jedoch, wie diese Triebe sich entwickelt haben sollen. Aus einer evolutionären Perspektive macht ein Todestrieb wenig Sinn. Wieso um alles in der Welt sollte die Evolution ihren Schützlingen eine eingebaute Selbstzerstörungsmentalität verleihen?
Gesunder Genuss und Selbstmord
Ich habe das Gefühl, dass wir dem Rätsel auf die Spur kommen könnten, wenn wir Emmanuel Lévinas wieder mit hinzuziehen. Wenn Genuss demonstrierte Unabhängigkeit ist, dann wäre der zu seinem Ende gebrachte Todestrieb der letzte Genuss, der letzte Akt der Demonstration der eigenen Unabhängigkeit in der Sklaverei. Seinem Leben selbstbestimmt ein Ende zu setzen, stellt die letzte Möglichkeit dar, sich den Regeln seiner Umgebung zu entziehen, sich ihnen zu widersetzen. Das Leben mit ungesundem Verhalten zu verkürzen, könnte so als abgeschwächtes Ausagieren des Todestriebs interpretiert werden.
Der Todestrieb lässt sich so als verkümmerter Trieb nach autonomem Leben interpretieren.
Die Grenzen der Freiheit
Betrachten wir den Aspekt der Freiheit etwas eingehender, wird klar, dass es sich um ein Konstrukt, ein neurologisches Kondensat handelt. Freiheit ist ein Ideal, das seit dem Beginn der Aufklärung sowohl individuelles, als auch gesellschaftlich-politisches Streben motiviert. Das Erreichen vollständiger Freiheit bleibt jedoch eine hartnäckige Illusion. Niemand kann vollständig frei sein. Der Entfaltung der eigenen individuellen Freiheit sind immer natürliche, soziale und gesellschaftliche Grenzen gesetzt. Somit ist die sukzessive Ausdehnung der eigenen äußerlichen Freiheit zwangsläufig damit verbunden, die Freiheit anderer einzuschränken.
Das Paradox der äußerlichen Freiheit
Wie wir bereits gesehen haben, ist das Streben nach der Freiheit im Gegensatz zu einer sicheren Umgebung (in der frühen Kindheit) nicht überlebensnotwendig. Zumindest nicht physisch. Aber das Gefühl von Freiheit ist essenziell für das Gedeihen der modernen menschlichen Psyche. Dabei spielt der Grad der von außen sichtbaren Freiheit eines Menschen keine allzu große Rolle. Bleibt doch nicht viel von dieser Freiheit übrig, solange ein Mensch innerlich abhängig bleibt. Das Verhalten von pubertierenden Jugendlichen zeigt, dass sich der nach Außen demonstrierte Grad eigener Freiheit umgekehrt proportional zur tatsächlich empfundenen, innerlichen Freiheit verhält.
Das öffentliche zur Schau stellen äußerlicher Freiheit dient paradoxerweise oftmals dem Kaschieren eines Mangels an innerlicher Freiheit.
Die Dialektik von innerlicher und äußerlicher Freiheit
Es wäre natürlich fatal anzunehmen, dass äußerliche und innerliche Freiheit nicht miteinander in Zusammenhang stünden. Dies könnte als verkapptes Argument zur Verteidigung von Klassizismus missbraucht werden. Ein heroinsüchtiger Mensch, der unter einer Brücke lebt und gesellschaftlich geächtet wird, hat schlechtere Chancen innerliche Freiheit zu erreichen, als sein hoch geachtetes Workaholic-Pendant. Materieller, sozialer und kultureller Wohlstand helfen zweifelsohne dabei, seine Probleme anzugehen, psychologische Hilfe in Anspruch zu nehmen und konstruktive Wege zur Genesung zu bestreiten.
Psychische Sklaverei und Sucht
Der Punkt ist jedoch, dass, wenn wir physisch zwar überleben, aber psychisch nicht gedeihen können, es vom Empfinden keinen großen Unterschied macht, mit welcher Substanz oder Aktivität wir unser fragiles inneres Überleben sichern. So mag es sein, dass ein sportsüchtiger Fußballprofi oder arbeitssüchtiger Manager Millionen über Millionen verdient. Aber vom innerlichen Zustand geht es Menschen mit dieser Art gesellschaftlich hochangesehenen Süchten nicht wesentlich besser als den sozial geächteten Drogen- oder „Fettsüchtigen“. Sie bleiben auf psychischer Ebene Sklaven ihrer Sucht.
Innere Freiheit und gesunder Genuss
Genuss und Sucht stehen in einem interessanten philosophischen und sprachlichen Zusammenhang. Während Lévinas die durch Genuss demonstrierte Unabhängigkeit betont, bedeutete das lateinische Wort „Addictis“ so viel wie „Sklave“. Somit ist Genuss im gewissen Maße das Andere der Sucht. Genuss ist (demonstrierte) Freiheit und enthält ein spontanes Element. Sucht ist Abhängigkeit und macht einen zum Sklaven der eigenen Leidenschaften (ob substanz- oder verhaltensbezogen) (Vgl.: Maté, 2021).
Egal wie frei ein Mensch im Äußeren erscheint, die empfundene innere Freiheit ist letztendlich das, wonach wir alle streben.
Fazit: Genuss fragt nicht nach Gesundheit
Fragen wir abschließend noch einmal danach, ob gesunder Genuss ein Oxymoron ist. Die Antwort lautet „Nein“. Genuss interessiert sich nicht für Gesundheit, wobei allerdings die positiven Gefühle die durch das Genießen erzeugt werden per se gesundheitsförderlich sind. Ob ein Mensch gesunden Genuss pflegt oder über ungesundes Verhalten seine Unabhängigkeit demonstriert, hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Nicht zuletzt vom sozioökonomischen Status, Erziehung und den mit diesen Variablen zusammenhängenden Empfindungen von Freiheit und Abhängigkeit.
Sucht und Genuss schließen sich aus
Abhängigkeit hängt wiederum eng mit Sucht zusammen. Das Wort „Sucht“ ist abgeleitet vom Wort „Siechen“, was so viel bedeutet, wie krank sein. Abhängigkeit und Sucht sind das andere der Freiheit und des Genusses. Zudem ist das Gefühl innerlich versklavt zu sein, das mit Sucht zusammenhängt, eine äußerst unangenehme Empfindung. Dieser innere Zustand muss als das Andere des per se gesundheitsförderlichen Genusses, ungesund sein muss. Der sprachliche Zusammenhang zwischen Genuss/ Unabhängigkeit und Sucht/ Sklaverei lässt darauf schließen, dass ungesundes Verhalten auch den Zweck des Selbstmords auf Raten erfüllen und auf diese Weise als letzte Freiheit in der Sklaverei dienen kann.
Gesundheit und das gute Leben
Mir scheint das Denken in Bezug auf Gesundheit (in Deutschland) völlig verdreht. Das Thema wird so behandelt, als müssten wir lediglich gesundheitsförderliche Verhaltensweisen an den Tag legen, um ein gutes Leben führen zu können. Aber eigentlich ist es aus logischer Sicht vollständig andersherum: Wer sein Leben schätzt und sich in seinen Gestaltungsmöglichkeiten frei fühlt, möchte, dass dieses Leben möglichst lange andauert. Wenn ich mein Leben mag, fördere ich meine Gesundheit gerne und bereitwillig.
Aber wenn ich mein Leben verabscheue und mich versklavt fühle, bekommt die Zerstörung meiner Gesundheit einen geheimen Sinn.
Quellen:
LÉVINAS, E. (2002): Totalität und Unendlichkeit: Versuch über die Exteriorität
KLOTTER, C. (1990): Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem
MATÉ, G. (2021): Im Reich der hungrigen Geister – Auf Tuchfühlung mit der Sucht – Stimmen aus Forschung, Praxis und Gesellschaft
METHFESSEL, B./ SCHLEGEL-MATTHIES, K. (2010): Ernährung und Diätetik. In: Hoefert, H-W./ Klotter, C. (Hrsg.): Gesunde Lebensführung – kritische Analyse eines populären Konzepts
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