Esskultur und Individuum

Esskultur und Individuum

Esskultur – Du bist gut so wie du isst

Immer wieder kommen Menschen zu mir in die Ernährungsberatung, die fest davon überzeugt sind, dass sie sich falsch ernähren würden. Oftmals geht damit das Gefühl einher, dass etwas mit ihnen selbst nicht richtig sei. Sie wünschen sich dann von mir, dass ich sie bzw. ihre Art sich zu ernähren „richtig“ oder „heile“ mache. Oftmals reagieren diese Menschen mit Erstaunen und Überraschung, manchmal auch mit Wut und Enttäuschung, wenn ich ihnen sage, dass ich das nicht kann. Doch unser momentanes Essverhalten das Ergebnis unserer individuellen und kulturellen Entwicklungsgeschichte. Also nichts, was einfach heile gemacht werden könnte. Wenn überhaupt kann sich Esskultur weiterentwickeln.

Individuum und Esskultur

Unser Verhalten und unsere körperliche Erscheinung sind individuell. Doch gleichzeitig sind beide von der Kultur geprägt in der wir aufwachsen. Dabei hat die individualistische Kultur in der wir im westlichen Kulturkreis leben eine feste Verankerung in der Überzeugung, dass Selbstdisziplin und harte Arbeit die Schlüssel zu allem Guten sei. Das ominöse Gute wird gleichgesetzt mit der Fähigkeit zu Mäßigung und Vernunft. Diese Werte, die wir westlichen Menschen implizit verinnerlicht haben, entspringen in Denk- und Glaubenstraditionen, die aus dem antiken Griechenland, der römisch-katholischen Kirche und aufklärerischen Idealen abgeleitet sind. 

Die Verknüpfung von Güte mit Vernunft und Mäßigung ist das Produkt unserer kulturellen Entwicklungen, kein gottgegebenes Naturgesetz.

Fitness- und Diätkultur

Die individualistische Kultur in der wir leben, vermittelt uns den Eindruck, dass jede*r alles aus sich und seinem Körper machen könne. Somit ist unsere westliche Kultur auch eine Fitness-, Gesundheits- und Diätkultur. Wenn das Erreichen der vorgegeben Ziele nicht klappt, sind diejenigen, die die Ideale für Schlankheit, Gesundheit und Fitness nicht erfüllen angeblich selbst Schuld daran. Sie dürfen dann verspottet und gehasst werden. Im gewissen Maße ist die Verurteilung derjenigen, die die gesellschaftlichen Ideale nicht erfüllen, eine abgeschwächte Form der Hexenverfolgung des Mittelalters.

Immerhin werden Menschen hier nicht bestraft, indem sie lebendig verbrannt werden.

Esskultur – Das große Paradox

Betrachtet man die körperlichen Anforderungen der Fitness- und Diätkultur in Verbindung mit unserem historisch einmaligen Wohlstand, erscheinen unsere Ideale höchst paradox. Denn zum einen ergibt sich aus diesem Wohlstand eine einmalige und wundervolle Gelegenheit zu Genuss, Entspannung und Freude. Und zum anderen können die meisten Menschen, wenn sie nicht durch Nahrungsknappheit dazu gezwungen werden, diese paradoxen Ideale nicht mal ansatzweise erreichen. 

Selbstoptimierung oder Individualisierung 

Aus meiner Weiterbildung zum Ernährungspsychologen erinnere ich mich daran, wie unser Professor erklärte, dass wir uns als Ernährungsberater*innen entscheiden müssten. Wir könnten entweder versuchen die Selbstoptimierung unserer Klient*innen zu erzwingen oder sie bei ihrer individuellen Selbstverwirklichung unterstützen. Während Selbstoptimierung auf Kosten des Individuums geht, ermöglicht die zweite Option die Chance auf ein selbstbestimmtes Leben. In meinen Augen ist die einzige Form des guten Lebens ein selbstbestimmtes Leben. Zumindest in individualisierten Gesellschaften.

Esskultur – Individualisierung

Selbstverständlich kann ich dir einen Ernährungsplan schreiben. Ich muss auch zugeben, dass ich dies früher einmal mit Begeisterung getan habe. Aber man lernt ja (hoffentlich) nicht aus. Mittlerweile kann ich nicht mehr guten Gewissens Vorgaben bezüglich deines individuellen Essverhaltens machen. Denn das individuelle Essverhalten orientiert sich nicht daran, was Ernährungsberater*innen und Fachgesellschaften für gute Ernährung halten. In Sachen Ernährung halten wir das für normal, was wir als normal kennenlernen. 

Individuelles Essverhalten ist das Produkt von Esskultur

Individuelles Essverhalten

Das menschliche Essverhalten entwickelt sich durch Beobachtungslernen und Erfahrungen in der Kindheit. Mittlerweile gehen einige Wissenschaftler*innen davon aus, dass sich sogar vorgeburtliche Einflüsse auf unsere Lebensmittelpräferenzen im späteren Leben auswirken. Wir werden in unsere jeweilige Esskultur hineingeboren. Außerdem ist individuelles Essverhalten von der jeweiligen Arbeits-, Sozial- und Lebenssituation geprägt. Während für die eine Person viele kleine Snacks ideal sind, ist für die andere vielleicht eine einzige große Mahlzeit am Tag. Außerdem kann ich ja nicht von Außen feststellen, was für einen Menschen Genuss bedeutet. 

Ich finde es mittlerweile arrogant als Experte aufzutreten und zu meinen, dass ich aufgrund von Parametern wie Körpergröße, -gewicht und Alter Vorgaben über das Essverhalten von komplexen sozialen Lebewesen machen könnte, wie wir Menschen es nun einmal sind. 

Ernährungsexpert*innen

Für mich hat sich mittlerweile eine völlig andere Maxime herauskristallisiert, nach der ich berate. Ich habe zwar Ökotrophologie studiert und bilde mich regelmäßig weiter, aber der/die Expert*in für sein bzw. ihr individuelles Leben ist stets mein*e Klient*in. Somit sind wir beide Expert*innen, die sich auf Augenhöhe begegnen, wobei die Beziehung natürlich asymmetrisch bleibt. Asymmetrisch deswegen, weil es ja kein nettes Gespräch, sondern eine qualifizierte Ernährungsberatung ist, bei der es um das Leben und Essverhalten meines Gegenübers geht. 

Meine eigenen Erfahrungen machen maximal einen kleinen Teil des Beratungsprozesses aus. Hauptsächlich geht es um mein Gegenüber.

Veränderung durch Vertrauen

Eine Veränderung von Verhalten ist eine langfristige Angelegenheit und muss stets intrinsisch motiviert sein. Ich kann niemanden mit einem Plan oder einer direktiven Anweisung verändern. Jede nachhaltige Veränderung wird von einem tiefen Wunsch, der leider meist durch Schmerz und Leid motiviert ist, ausgelöst. Als Ernährungsberater kann ich nur dadurch etwas bewirken, dass ich mein Gegenüber als das Subjekt anerkenne und wertschätze, das er in dem Moment ist, in dem wir zusammensitzen. Aus der daraus entstehenden vertrauensvollen Beziehung ergeben sich dann unter Umständen neue Lebenswege, die mein*e Klient*in selbstständig gehen kann. 

Ernährungsberatung, Esskultur und Güte

Es ist nichts gütiges daran jemanden zu bevormunden. Selbst wenn man angeblich das beste für sein Gegenüber möchte, kann man ja gar nicht wissen, was das aus seinem Blickwinkel heißt. Wir können nur aus unserem Bezugsrahmen darüber urteilen, was wir selbst als gut empfinden. Es ist unser subjektives Verständnis vom Guten. Daher ist die Güte immer etwas, das von Subjekt zu Subjekt transportiert wird. Güte hat viel mit ehrlich interessiertem Zuhören zu tun, was den wohl wichtigsten Teil jedes Beratungsprozesses ausmacht. Ich empfinde daher das Zitat von Emmanuel Lévinas bezüglich Güte als besonders treffend: 

„Sie {Die Güte} betrifft ein Seiendes, das sich im Antlitz offenbart(…). Sie hat ein Prinzip, einen Ursprung, sie entspringt einem Ich, ist subjektiv.“

Esskultur – ein Fazit

Ein weiterer schöner Satz, der von meinem Professor Dr. Klotter in Fulda geprägt wurde und mir in Erinnerung geblieben ist, lautet „Essen ist die primäre Sprache unserer kulturellen Identität“. In diesem Satz steckt so viel Weisheit, dass er zu einem meiner Lieblingszitate geworden ist. Der Satz drückt aus, dass sich eine individuelle Identität nur eingebettet in seiner jeweiligen Kultur entwickeln kann. Zudem drückt es aus, dass Essen nicht nur das Befolgen von Ernährungsplänen, sondern eine Form der Kommunikation ist.