Frieden (mit dem Essen schließen)

Frieden (mit dem Essen schließen)

Das Thema ‚Frieden‘ könnte kaum relevanter sein als heute. Weltweit flammen Konfliktherde auf und sorgen für menschliches Leid. Neben dieser weltpolitischen Dimension lässt sich Frieden allerdings auch als eine Angelegenheit zwischen Menschen sowie politischen Gruppen innerhalb von Ländergrenzen betrachten. Außerdem gibt es auch eine innere Dimension des Friedens. Den heutigen Blogbeitrag möchte ich nutzen, um eine Verbindung zwischen diesen drei Dimensionen aufzuzeigen und den Versuch wagen, über das Themenfeld ‚Frieden‘ systematisch nachzudenken. Dabei werde ich beim Thema ‚Essen‘ starten und möchte die werten Leser*innen einladen, mich bei diesem Essay gedanklich zu begleiten.

Kann es gelingen, Frieden mit dem Essen zu schließen?

‚Frieden mit dem Essen schließen‘, ist eine Ausdrucksweise, die uns vor allem rund um das intuitive Essen begegnet. Doch was ist damit eigentlich gemeint? Negativ gesehen geht es beim intuitiven Essen darum, Verbote, Verhaltensregeln in Bezug auf Ernährung sowie gesellschaftliche Körpernormen kritisch zu hinterfragen und abzulegen. Positiv ist das Ziel, es sich zu erlauben, all das zu essen, was man möchte, wann man es möchte und wie man es möchte. Dabei ist der Grundgedanke, dass es möglich ist, nach dem Ablegen der alten, verstaubten Regeln und Normen einen Umgang mit Essen zu finden, der den eigenen, individuellen Bedürfnissen entspricht.

Frieden mit dem Essen zu schließen, bedeutet also Frieden mit sich selbst zu schließen.

Die Verbindung von ‚Essen‘ und ‚Welt‘ 

Nachdem man sich und die eigenen Bedürfnisse besser kennengelernt und Frieden mit dem Essen geschlossen hat, soll sich das Essverhalten so einpendeln, dass es dem eigenen Körper und Geist guttut. Das Motto ist: Du als Individuum weißt, was für dich am besten ist, du wusstest es schon als Kleinkind und du kannst es wieder entdecken. Eine schöne Philosophie.

Ausflug in die Soziologie

Wenn wir Essen soziologisch betrachten, wie es zum Beispiel Hartmut Rosa tut, dann ist essen eine Tätigkeit bei der wir uns ‚Welt‘ einverleiben und damit ‚Welt‘ zu ‚Ich/Selbst‚ machen (ROSA, 2019). Beim intuitiven Essen verleiben wir uns die Welt nach unseren eigenen, individuellen Maßstäben ein, anstatt normativen Regeln zu folgen. Ein höchst westlicher Gedanke, da wir uns kulturell zunehmend von einer normgeprägten zu einer individualistischen Gesellschaft entwickeln.

Welt einverleiben und Frieden?

Nun könnte ein kritischer Geist zu der Meinung gelangen, dass es ein Ding der Unmöglichkeit sei, sich einerseits Welt einzuverleiben und andererseits Frieden mit dieser Welt zu schließen. Diesen vermeintlichen Widerspruch möchte ich im folgenden genauer analysieren. Doch um das tun zu können, ist es notwendig erst einmal zu schauen, wie ‚Frieden‘ überhaupt definiert werden kann.

Frieden

Als ich mich auf den Weg gemacht habe, für diesen Blogbeitrag zu recherchieren, dass Frieden aus verschiedenen Richtungen definiert und betrachtet werden kann. Neben politischen Definitionen haben auch einige berühmte Philosophen, das Feld des ‚Friedens‘ bereits beackert. Dabei scheinen die meisten von ihnen von Frieden zwischen Staaten ausgegangen zu sein. Doch einige, wie Platon und Martin Buber haben auch eine intraindividuelle beziehungsweise beziehungsorientierte Perspektive auf das Thema ‚Frieden‘ eingenommen. 

Neben weltlichem, vertraglich gesicherten Frieden betrachten einige Philosophen Frieden auch als kosmischen Ordnungszustand, indem vollkommene Ruhe herrscht.

Philosophische Überlegungen oder: Frieden hängt von Welt- und Menschenbild ab

Wie wir über Frieden denken, hängt entscheidet von unserem Welt- und Menschenbild ab. Das zeigt sich paradigmatisch an den Menschenbildern zweier Philosophen: Erasmus von Rotterdam (ca. 1467-1536) und Thomas Hobbes (1588-1679) hätten keine gegensätzlicheren Positionen vertreten können. Erasmus war der Meinung, dass der Mensch von „Natur aus zum Frieden gemacht sei“, während Hobbes meinte, der Mensch sei ein wildes Tier, das durch Angst vor einem Souverän in Schach gehalten werden müsse. Beide Positionen scheinen mir nachvollziehbar und genau das macht eins deutlich:

Bevor wir über Frieden nachdenken können, müssen wir uns die Frage stellen, woran wir glauben.

Christlicher Frieden

Wenn wir über Frieden sprechen, dann sind die Friedenstaube und damit verbunden, das Christentum assoziativ nicht weit entfernt. Augustinus von Hippo (354-430), der als Kirchenvater gilt, vertrat die Meinung, dass irdischer Frieden erkämpft werden müsse. William James war ebenfalls Christ, vertrat jedoch quasi die entgegengesetzte Position von Augustinus. James war der Meinung, dass die Vorbereitung des Krieges der wahre Krieg sei und letztlich zum Ausagieren desselben führen müsse. Auch innerhalb des Christentums (und wahrscheinlich auch anderen Religionen) gibt es gegensätzliche Auslegungen des Wortes ‚Frieden‘.

Frieden als Kulturgut

Ähnlich wie James sah es Immanuel Kant, der darüberhinaus der Meinung war, dass Frieden kein Naturzustand sei, sondern von vernunftgeleiteten Entscheidungen und dem Streben nach Gerechtigkeit abhinge. Hier nahm er die Politik in die Pflicht, die sich der Idee eines allgemein gültigen Rechtssystems unterzuordnen habe (KANT, 1795). Kant wird vorgeworfen, dass seine Philosophie „säkularisierte Religion“ sei und letztlich einen unreflektierten christlichen Glauben als Grundlage habe, anstatt kritisches Denken. Es stellt sich an dieser Stelle die Frage, ob wir Frieden auch ohne religiös geprägte Moralvorstellungen und Glaubenssätze betrachten können. 

Frieden als Kosten-Nutzen-Rechnung

Jeremy Bentham (1748-1832), der Erfinder des Utilitarismus, stellte auch Krieg und Frieden unter seine philosophische Prämisse, die darin besteht, Leid zu mindern und Lust („pleasure“) zu fördern. Sein Urteil fiel eindeutig aus: „Jeder Krieg ist seinem Wesen nach ruinös“. Weder lohne sich Krieg, noch sei es im Grundpotenzial des Menschen angelegt Krieg gegeneinander zu führen. Bentham machte jedoch eine entscheidend wichtige Einschränkung geltend:

„Aggressiver Krieg ist eine Frage der Wahl, defensiver eine der Notwendigkeit.“

Martin Buber: Frieden braucht Vertrauen

Eine Position, die mir neben der sachlichen, utilitaristischen Perspektive auf Frieden zusagt, stammt von Martin Buber, einem jüdischen Religionsphilosophen. Dieser unterschied zwei Formen des Friedens. Einerseits gebe es denjenigen Frieden, der über Misstrauen und Bedrohung wirke. Diesen Zustand nannte er „kriegsbesessenen Widerfrieden“. Andererseits existiere die Möglichkeit des „Großen Frieden“, der über echtes Vertrauen zwischen Menschen und Staaten entstehe. Nur letzterer ist laut Buber wahrer Frieden und könne die Leidenschaften der Menschen so verwandeln, sodass diese gemeinsam dauerhaften Frieden tragen und erhalten könnten.

Innerer Frieden

Nachdem wir nun philosophische Positionen der letzten 500 Jahre angeschaut haben, möchte ich noch weiter in die Vergangenheit springen. Platon hat vor fast 2500 Jahren die Position vertreten, dass es notwendig sei, dass alle [drei] Seelenanteile miteinander in friedlicher Koexistenz seien, wobei das „Oberkommando“ der Vernunft obliegen sollte. Platon hat somit als der einziger der Philosophen, mit denen ich mich beschäftigt habe, über eine intraindividuelle oder innere Form des Friedens philosophiert. 

Mit dieser Position hat Platon auch die Psychoanalyse Freuds und dessen Drei-Instanzen-Modell (Es, Ich, Über-Ich) stark beeinflusst (HAIDT, 2011). Platon steckt in vielerlei Hinsicht in unserer modernen Kultur und Psychologie [wichtig zu merken].

Wo ich Platon zustimme

Persönlich kann ich mich Platon insofern anschließen, dass er eine Verbindung zwischen den Dimensionen des inneren, interindividuellen und politischen [Frieden] hergestellt hat. Ich bin davon überzeugt, dass die Art und Weise, wie wir mit uns selbst umgehen, sowohl widerspiegelt, wie wir mit unseren direkten Mitmenschen umgehen, als auch politische Implikationen hat. Das Kleine steckt im Großen und andersherum. Die entscheidende Frage ist in meinen Augen jedoch, wie diese Implikationen systematisch miteinander zusammenhängen.

Wo ich von Platons Position abweiche

Abweichend zu Platon gehe ich davon aus, dass ein „Oberkommando“ der Vernunft mittel- und langfristig zu ungünstigen Herrschaftsverhältnissen führt. Passend dazu war Platon der Meinung, dass jede Demokratie (im antiken Sinne) letztlich zur Tyrannei führen muss, weil die richtige Führung fehle. Ich hingegen glaube und hoffe, dass Demokratie (im modernen Sinne) dazu führen kann, dass alle Anteile innerhalb von Individuen [und Staaten] integriert werden und eine Stimme erhalten können. 

In meinen Augen ist der Zustand, in dem alle Anteile (die vernünftigen genauso wie die unvernünftigen) sein dürfen, [innerer] Frieden.

Innerer Frieden heißt verstehen

Wir Menschen sind komplexe Lebewesen. In uns stecken Anteile, die wir mit den primitivsten Tieren teilen und gleichzeitig sind wir zu Kulturleistungen fähig, die so wunderbar sind, dass es schwer ist, diese ohne einen ‚göttlichen Funken‘ zu erklären. Damit innerer Frieden möglich wird, benötigen wir ein Verständnis dafür, wieso wir Menschen sind bzw. werden wer wir sind. Also, welche Grundbedürfnisse wir haben und wie wir Eltern ermöglichen können, dass sie ihren Kindern sowohl die materiellen als auch immateriellen Bedingungen zur Verfügung stellen können, die diese [zum gesunden Aufwachsen] benötigen (MATÉ & MATÉ, 2022).

Die Beziehung zwischen innerem und Weltfrieden

Um im nächsten Abschnitt vom inneren zum interindividuellen und anschließend zum ‚Weltfrieden’ zu gelangen, möchte ich, um die nun entstandene Komplexität etwas zu reduzieren, eine kurze Zusammenfassung des bisher Geschriebenen geben. Wir haben uns in den vorherigen Abschnitten mehrere aufeinander aufbauende Prämissen erarbeitet, die ich so zusammenfasse:

1.) Frieden mit dem Essen und der Welt, die einen umgibt, stehen in einem engen Zusammenhang.

2.) Wir sind dazu gezwungen, uns Welt einzuverleiben, um zu leben. Ein Leben ohne die Zerstörung von biologischem Leben (dazu zähle ich auch Pflanzen) ist unmöglich.

3.) Definitionen von Frieden, bauen indirekt auf dem auf, was wir glauben.

4.) Wie wir ‚Frieden‘ definieren und verstehen, hängt von unserem [impliziten] Menschenbild ab.

5.) Innerer, interindividueller und politischer Frieden hängen miteinander zusammen.

6.) Wenn wir inneren Frieden fördern möchten, müssen wir verstehen, was dazu beiträgt und was ihn verhindert.

Interindividueller Frieden

Gehen wir nun von einem Staat aus, in dem alle Individuen es zu innerem Frieden gebracht haben. Würden diese Menschen nur noch gesund essen, keine Drogen nehmen und nur noch langfristig ausgelegte Entscheidungen treffen? Ganz bestimmt nicht! Diesen Zustand anzustreben, mag Platons Vernunftsideal entsprechen, aber ganz sicher ist es keiner, der alle menschlichen Eigenschaften [demokratisch] integriert. 

Aus meiner Perspektive würden Menschen, die es zu innerem Frieden gebracht hätten, auch unvernünftige Verhaltensweisen weiterhin praktizieren. Allerdings würden sie diese mit vollem Bewusstsein genießen.

Politischer Frieden

Würden diese Individuen, die es zu innerem Frieden gebracht hätten nur noch über Blumenwiesen hüpfen und sich umarmen? Ganz sicher nicht! Auch, wenn man mit sich selbst und anderen in Frieden lebt, gibt es Persönlichkeitsanteile und Mitmenschen, die man mehr schätzt und andere, die man lediglich respektiert. Außerdem stecken in uns Menschen auch weiterhin aggressive Anteile. Frieden zwischen den Menschen bedeutet nicht, das Animalische und Aggressive in uns abzulegen, sondern es zu integrieren (KLOTTER, 2018).

Menschen, die es zu innerem Frieden gebracht hätten, würden ihre Fähigkeit und Neigung zu Konkurrenz, Aggression und Gewalt in Spiel, Sport, Humor und anderen Kulturleistungen sublimieren und so zum Ausdruck bringen.

Politischer Frieden als historischer Prozess

Politischer Frieden ist in meinen Augen nichts, was am Reißbrett erfunden werden kann. Wie alle Lernprozesse braucht Frieden Erfahrungen. Schlimme, mitunter sogar traumatische Erfahrungen sind notwendig, damit sich Systeme weiterentwickeln können. Jeder tragische Flugzeugabsturz hat das Potenzial, das zukünftige Fliegen sicherer zu machen (TALEB, 2013). Damit Erfahrungen zu lernen führen können, müssen jedoch Prozesse geschaffen werden, welche die Lernerfahrungen systematisch integrieren. Das gilt für Individuen, persönliche Beziehungen und Politik gleichermaßen.

Bildung und Frieden

Was mich trotz all der Krisen, die unsere Welt bedrohen und erschüttern, optimistisch stimmt, ist die Tatsache, dass das Bildungsniveau weltweit steigt. Konnte vor nicht einmal 500 Jahren kaum ein Mensch lesen, was sich durch den Buchdruck (Johannes Gutenberg) zu ändern begann, bewegen wir uns heute in der westlichen Welt zunehmend in Richtung einer individualistischen Wissensgesellschaft. Bildung halte ich für eine entscheidende Variable, um Frieden zu ermöglichen und zu erhalten.

Denn nur Menschen, die in der Lage sind, sich eine eigene Meinung zu bilden, was durch echte Bildung ermöglicht wird, können ihre unterschiedlichen Anteile verstehen und integrieren lernen.

Urvertrauen als Grundvoraussetzung

An dieser Stelle hoffe ich, die Verbindung zwischen innerem und interindividuellem Frieden deutlich gemacht zu haben. Innerer Frieden entwickelt sich nicht im luftleeren Raum. Die ersten Lebensjahre sind entscheidend für eine kindliche Entwicklung, die im weiteren Lebensverlauf zu friedlichen Beziehungen mit dem eigenen Selbst und der Umgebung führen kann. Entscheidende Bedingungen für diese Entwicklung sind Bildung, Wohlstand und Wissenschaft. Nur so kann eine Art von Erziehung und Pädagogik erforscht und angewandt werden, die zu Frieden in und zwischen Menschen beiträgt.

Passend zu Martin Bubers Gedanken zu Frieden nennen Psychologen den anzustrebenden Weltbezug, der unter den richtigen Bedingungen in den ersten Lebensjahren entstehen kann und sollte auch ‚Urvertrauen‘ (ERIKSON, 1992).

Urvertrauen als Weltbezug

Urvertrauen ist ein Weltbezug, der sich dadurch auszeichnet, dass Babys/Kleinkinder erfahren, dass sie in der Welt in die sie hineingeboren wurden, willkommen sind. Ihre Bedürfnisse nach Nahrung, Körperkontakt und sauberen Windeln werden bedingungslos erfüllt. Immer wieder werden diese Kinder darin bestätigt, dass sie eine sichere Ausgangsbasis haben, welche dazu führt, dass sie zunehmend Lust darauf bekommen, ihre Umwelt zu erkunden und zu entdecken.

Weltentdecker vs. Welteroberer

Die Betonung liegt dabei auf dem Entdecken von Welt, dem ‚Anverwandeln‘, wie der Soziologe Hartmut Rosa es ausdrücken würde (ROSA, H, 2019). Im Gegensatz dazu steht das Kind, welches die ihn umgebende Welt als unsicher, bedrohlich und im schlimmsten Fall gewalttätig erfährt. Ein solches Kind lernt, dass entweder seine Umwelt ihm etwas antut oder es sich in ihr durchsetzen muss. Es kann an dieser Welt zugrunde gehen, oder sie erobern. 

Ein friedliches Erkunden und Anverwandeln ist in einer feindlichen Umwelt unmöglich.

Von kleinen zu großen Welteroberern

In was für einer Umwelt sind wohl Menschen wie Putin, Stalin und Hitler aufgewachsen? Es ist schwer vorstellbar, dass sie das nötige Urvertrauen in den Armen ihrer Mütter (und/oder Väter) haben entwickeln können. Stattdessen müssen sie gelernt haben, dass die Welt ein bedrohlicher Ort ist, dem sie ihren Willen aufzwingen müssen, wenn sie nicht an ihr zugrunde gehen wollen. Dabei geht es nicht darum, die Gräueltaten dieser Diktatoren zu rechtfertigen oder zu entschuldigen, sondern aufzuzeigen, dass auch diese Menschen, die viele Menschen als „Ausgeburten des Bösen“ wahrnehmen, einmal kleine, unschuldige, in die Welt geworfene Kinder waren.

Wiederholungszwang

Die Kinder, die später zu Massenmördern und Diktatoren werden, wachsen ebenfalls nicht im luftleeren Raum, sondern in Familien, die in Gesellschaften und heute zusätzlich in einer von Interdependenzen geprägten, globalisierten Geopolitik eingebettet sind, auf. Armut, Ungleichheit, (Kriegs-)Traumata und damit verbunden, fehlender Schutz und mangelhafte emotionale Nähe produzieren eine Generation von geschädigten Kindern, die dann als Erwachsene die Traumata der nächsten Generationen produzieren. 

Psychoanalytiker würden dies Wiederholungszwang nennen.

Warum sind wir noch nicht alle tot?

Das ist die große Frage. Die Frage aller Fragen, die jederzeit obsolet werden kann, wenn wir durch einen Atomkrieg, künstliche Intelligenz, die Klimakatastrophe oder einen einschlagenden Asteroiden doch alle sterben sollten. Aber bisher haben wir Menschen doch immer noch eine Lösung gefunden, um den Kahlschlag unserer Spezies ein weiteres Mal aufzuschieben. Unterdessen haben wir es geschafft einen nie da gewesenen technologischen und humanistischen Fortschritt zu kreieren, der Armut, Hunger und Kindersterblichkeit sukzessive gesenkt und die Lebenserwartung und -qualität in, für unsere Vorfahren, unvorstellbare Höhen katapultiert hat (ROSLING et al., 2018).

Innerer Frieden …

Innerer Frieden ist kein Zustand, sondern ein Prozess. Ein Prozess bei dem es um Balance geht. Ich habe, wie alle Menschen, verschiedene Anteile in meiner Persönlichkeit. Da gibt es einen sehr leistungsorientierten Anteil, der früh gelernt hat, alles alleine schaffen zu müssen. Ein anderer Anteil, den ich als meinen ‚therapeutischen‘ Anteil bezeichne, ist darauf aus, mich und andere zu verstehen. Darüberhinaus gibt es einen sehr strengen Anteil in mir, der mit sich und anderen hart ins Gericht geht und viele andere mehr.

Diese Anteile so auszubalancieren, dass ich inneren Frieden empfinde, ist eine tägliche Herausforderung.

… ist ein Balanceakt

Es ist also schwierig, innerlich mit sich im Frieden zu sein und die dafür nötige Balance aufrechtzuerhalten. Meistens bedeutet Frieden nicht, dass ich ständig mit entrücktem Lächeln im Lotussitz meditiere und mit allem einverstanden und eins bin. Diese Situation gibt es zwar auch und Meditation ist definitiv ein wertvolles Hilfsmittel zur Förderung von innerem Frieden, aber oft ist mein innerer Frieden auch eine haarige Angelegenheit, bei der ich um Selbstakzeptanz ringe. 

Interindividueller Frieden…

Innerer Frieden ist jedoch fast ein Kinderspiel im Vergleich zu interindividuellem Frieden. Da können schon dreckige Socken, die meine Frau im Wohnzimmer liegen gelassen hat, meinen inneren Frieden empfindlich stören. Dann muss ich als erstes meine innere Balance wiederfinden, bevor ich auf angemessene Weise meine Frau darum bitten kann, dass sie ihre Socken bitte direkt in die Wäsche räumt. Würde sie jetzt diese Zeilen lesen, ginge der Prozess wohl andersherum, weil sie es unangemessen findet, dass ich auf meinem Blog über ihre Marotten schreibe.

… ist noch komplizierter

Dadurch ist es umso schwieriger, ein friedliches Miteinander mit seinen Mitmenschen aufrechtzuerhalten (besonders natürlich mit dem eigenen Ehepartner). Und meine Frau und ich lieben uns. Wie kompliziert ist es, mit den Marotten seiner Mitmenschen auszukommen, die man unsympathisch findet oder die auf die eine oder andere Weise zur ‚Outgroup‘ gehören? Kurz gesagt: Es ist verdammt kompliziert! 

… Weltfrieden ist komplizierter als Quantenphysik…

Nun haben wir, ohne es richtig zu merken, die Verbindung zwischen innerem-, interindividuellem- und Weltfrieden hergestellt. Wir benötigen die richtigen Ausgangsbedingungen (Wohlstand, Bildung, Wissenschaft), um Kindern Urvertrauen mit auf den Weg zu geben. Soziale Gemeinschaften, in denen diese Kinder zu möglichst gesunden und friedlichen Erwachsenen werden können und so weiter. Damit diese Ressourcen zur Verfügung gestellt und genutzt werden können, benötigen wir eine gewisse Stabilität, also möglichst Weltfrieden. 

… und beißt sich in den Schwanz!

Also wo anfangen? Damit wir Weltfrieden erreichen und aufrechterhalten können, benötigen wir Frieden innerhalb und zwischen den Menschen. „Na klasse“, könnte man jetzt denken, „dann muss ich jetzt losziehen und Weltfrieden stiften“ … oder wir besinnen uns auf unsere eingeschränkten Möglichkeiten und beginnen bei uns selbst. Wir können heute, hier und jetzt damit beginnen, mit uns selbst ins Reine zu kommen, was wiederum die Grundlage dafür ist, dass wir mit unseren Mitmenschen friedlich zusammenleben können, statt alle negativen Eigenschaften von uns selbst auf diese zu projizieren.

Und wenn diese komplexen Wechselwirkungen des Friedens zwischen immer mehr Menschen aufblühen, haben wir eine Chance auf… 

Zusammenfassung und Fazit

Bei genauer Betrachtung des Begriffs ‚Frieden‘ wird deutlich, dass dieser alles und nichts bedeuten kann. Im Alltag begegnet uns der Terminus meist in Nachrichten und im außenpolitischen Kontext. In diesem Essay bin ich bewusst von diesem Blickwinkel abgewichen und stattdessen von Frieden als einem möglichen inneren Zustand ausgegangen. Ausgehend vom intuitiven Essen mit seiner Begrifflichkeit des ‚Frieden mit dem Essen schließen‘ habe ich eine Verknüpfung von innerem, interindividuellem und Weltfrieden hergestellt. ‚ Frieden mit dem Essen schließen‘ beschreibt nebenbei gesagt, eine Möglichkeit, die nur im Wohlstand möglich wird. Das sollten wir uns stets vor Augen führen.

Frieden als Prozess

Schnell wurde deutlich, dass ‚Zustand‘ die falsche Bezeichnung ist. (Innerer) Frieden ist eher als Prozess zu begreifen, der darauf beruht, alle Anteile des eigenen Seins/der Mitmenschen/der Welt zu akzeptieren und anzuerkennen. Außerdem bauen die drei Dimensionen des Friedens aufeinander auf. Erst, wenn Menschen inneren Frieden empfinden können, sind interindividueller Frieden und möglicherweise auch Weltfrieden möglich. Dabei habe ich erläutert, warum es dafür aus meiner Sicht essenziell ist, dass als gesellschaftliche Rahmenbedingungen Bildung sowie eine systematische Integration von Lernprozessen gefördert werden.

Schluss

Letztlich komme ich zu dem Schluss, dass es ein bemerkenswertes Wunder ist, dass wir Menschen trotz unserer Massenvernichtungswaffen und global schwelenden Konflikten noch immer auf dieser Erde wandeln. Wir könnten schon alle tot sein und dennoch finden wir immer wieder Lösungen für Probleme zu denen wir selbst beitragen. Unterdessen haben wir in den letzten 200 Jahren sukzessive unsere ökonomischen Lebensbedingungen, unsere Lebenserwartung und unseren Bildungsstand verbessert und damit Voraussetzungen geschaffen, die potenziell zu Weltfrieden beitragen können.

Etwas, worauf wir hoffen und hinarbeiten sollten.

Quellen:

  • Erikson, E.H.: Der vollständige Lebenszyklus, Frankfurt am Main (1992)
  • Haidt, J.: Die Glückshypothese: Was uns wirklich glücklich macht. Die Quintessenz aus altem Wissen und moderner Glücksforschung (2009)
  • Kant, I.: Zum ewigen Frieden (1795)
  • Klotter, C.: Warum der Spaß am Bösen ein Teil von uns ist: Über das fragmentierte Subjekt der Moderne (2018)
  • Maté, G. & Maté, D.: The Myth of Normal: Trauma, Illness & Healing in a Toxic Culture (2022)
  • Platon (Hrsg.: APELT, O.; SCHLEIERMACHER, F.): – Politeia (Gesammelte Werke) (1925) 
  • Rosa, H.: Resonanz: Eine Soziologie der Weltbeziehung (2019)
  • Rosling, H et al.: Factfulness: Wie wir lernen, die Welt so zu sehen, wie sie wirklich ist (2018)
  • Taleb, N.N.: Antifragilität: Anleitung für eine Welt, die wir nicht verstehen (2013)

Internetquellen:

https://www.philomag.de/artikel/theorien-des-friedens