Dicke Menschen und Ernährung
Dicke Menschen und Ernährung
Dicken Menschen wird normalerweise (meist ungefragt) geraten, dass sie abnehmen sollten. Dieser Ratschlag ist der wissenschaftlichen Evidenz zu Folge für viele gar nicht umsetzbar. Es gilt jedoch als common-sense, dass dicke Menschen lediglich ihre Gewohnheiten verändern müssten. Also einfach weniger essen und mehr bewegen. Dieser Beitrag soll diese Handhabung kritisieren, aber keineswegs den Eindruck erwecken, dass Ernährungs- und Bewegungsverhalten keine Relevanz für die Gesundheit hätten. Ganz im Gegenteil. Mehr dazu im heutigen Blogbeitrag.
Ernährungsberatung ≠ Ratschläge
Im klassischen Sinne wird Ernährungsberatung und -therapie oft als reine Wissensvermittlung verstanden. Es werden dann Ratschläge, Tipps und Empfehlungen ausgesprochen, die im Regelfall auf taube Ohren (wissenschaftlicher Ausdruck: Reaktanz) stoßen. Bei den empfohlenen Gewohnheitsveränderungen wird oft proklamiert, dass frau/man „einfach“ nur Routinen im Alltag verändern müsste. In der Realität kann man gar nicht von Außen beurteilen, ob das durchschnittliche Ess- und Bewegungsverhalten von Menschen problematisch ist. Und wenn doch, ist das beobachtbare Verhalten häufig nur Symptom.
In letzterem Fall ist es wichtig zu verstehen, wofür die jeweiligen Verhaltensweisen stehen und wodurch sie ausgelöst werden.
Physiologie und Psychologie
Gestern hatte ich ein konstruktives Telefonat mit einer ausgesprochen kompetenten Endokrinologin. Dieses Telefonat hat mir nochmals deutlich vor Augen geführt, wie wichtig es ist, dass sich der fachliche Blick sowohl auf die Ernährungspsychologie als auch auf die Ernährungsphysiologie richtet. So betonte besagte Endokrinologin, dass bei Insulinresistenz die ständigen Blutzucker- und Insulinspitzen durch häufige Mahlzeiten und süße Snacks vermieden werden sollten. Gleichzeitig sorge ein chronisch erhöhter Insulin- und Blutzuckerspiegel für vermehrten Appetit und Heißhunger. Ein Teufelskreis, den zu durchbrechen Selbstdisziplin kostet.
Ernährungspsychologische und -physiologische Aspekte beeinflussen sich somit gegenseitig. Sie sind nicht voneinander zu trennen.
Methodenmix in der Ernährungsberatung
Es gibt Situationen, in denen wir Selbstdisziplin, Behaviorismus und Konditionierung schlichtweg benötigen, um unser individuelles Verständnis vom guten Leben zu verwirklichen. Das gilt übrigens nicht nur für dicke Menschen. Denn Gewohnheiten, nicht nur beim Essen und Bewegen, entstehen zu großen Teilen aus biographischen Erfahrungen heraus und haben gesundheitliche Auswirkungen. Ganz unabhängig vom körperlichen Erscheinungsbild. Die Arbeit in der qualifizierten Ernährungsberatung ist weder reine Wissensvermittlung noch Konditionierung. Sie ist natürlich auch keine psychotherapeutische Biografiearbeit, obwohl sie oftmals essbiographische Bestandteile aufweist. Qualifizierte Ernährungsberatung benötigt einen Methodenmix. Es geht um Wissensvermittlung und Konditionierung, aber auch um Fragen wie:
– Womit verbindest du das Eis/Bier im Sommer?
– Welche Bedeutung hat die Tüte Chips vor dem Fernseher für dich?
– Welche Vorteile hat es, dich abends (nicht mehr) zum Sport aufzuraffen?
Auch dicke Menschen dürfen ihre eigenen Bedürfnisse (wieder) entdecken
Im großen und ganzen geht es darum, den Zugang zu den eigenen Empfindungen und den sich teilweise widersprechenden Bedürfnissen immer wieder neu zu entdecken und schätzen zu lernen. Dabei hat die qualifizierte Ernährungsberatung eine unterstützende Aufgabe und ist auf individuelle Sinnfindung ausgerichtet. Wer auch immer auf die Idee gekommen ist, dass Ernährungsberatung reine normative Informationsvermittlung sei, hat sich jedenfalls gewaltig getäuscht. Gerade bei dicken Menschen. Als wenn Menschen, die ihr ganzes Leben unter Gewichtsdiskriminierung zu leiden haben, nicht wüssten, was angeblich gesund ist und schlank macht.
Gelingende Ernährungsberatung für dicke Menschen
Für gelingende Ernährungsberatung brauchen Ernährungsberater*innen die innere Haltung einfühlsam zuhören und verstehen zu wollen. Qualifizierte Ernährungsberatung sollte es um das Wohl der Klient*innen gehen und nicht darum, sie auf Teufel komm raus schlank zu machen. Manche Menschen sind schlichtweg dicker als andere. Genauso wie manche Menschen größer sind als andere. Da hilft auch keine Fruchtzwerge-Diät. Es geht um das Finden von individuellen Möglichkeiten und Grenzen mit dem übergeordneten Ziel des guten Lebens.
Manchmal gehen individuelles Wohl und Abnehmen Hand in Hand. Manchmal nicht. Menschen sind unterschiedlich und das ist gut so.