Essen als Fähigkeit

Essen als Fähigkeit

Mit dem Themenfeld „Ernährung“ beschäftige ich mich bereits seit vielen Jahren, mittlerweile ziemlich genau mein halbes Leben. Essen ist eine Tätigkeit mit der ich mich sogar bereits seit vor meiner Geburt befasse. Das haben du und ich gemeinsam. Essen ist, wenig überraschend, für das Leben so essenziell wie atmen. Obwohl ich mich beruflich seit über 15 Jahren mit Ernährung und seit über 30 Jahren mit Essen beschäftige, gibt es doch noch immer AHA-Momente für mich. Mein letzter AHA-Momente bestand darin, dass mir bewusst wurde, dass Essen als Fähigkeit gesehen werden kann. Den Hintergrund möchte ich in diesem Blogbeitrag teilen.

Essen als Sprache

Wer meinen Blog verfolgt, weiß, dass ich viel von der Idee halte, Essen als „primäre Sprache unserer kulturellen Identität“ (C. Klotter) zu betrachten. Doch was bedeutet das im Detail? Zuerst einmal heißt es, dass wir von der Kultur, in die wir hineinwachsen, stark beeinflusst werden. Unser Essverhalten orientiert sich an dem, was wir bei unseren nächsten Bezugspersonen beobachten und diese sind wiederum von anderen Menschen und deren sozialem Handeln beeinflusst, was wir als „Kultur“ zusammenfassen können.

In diesem Umfeld beginnen wir, entwicklungspsychologisch etwas später, die gesprochene Sprache unseres Umfelds nachzuahmen.

Essen als Fähigkeit

In der Rückschau erscheinen einem oftmals Sachverhalte, die im Vorhinein undurchdringlich waren, logisch und völlig klar. So ist es für mich, wenn ich daran denke, dass die Sprache „Essen“ letztlich (natürlich) auch eine Fähigkeit ist. Selbstverständlich können wir besser essen lernen. Wir können ja auch besser sprechen oder sogar Fremdsprachen erlernen. Doch auch, wenn mir dies mittlerweile so logisch erscheint, ist diese Perspektive nach meiner Erfahrung eher die Ausnahme.

Ernährungswissen als Heilmittel

Statt Essen als Fähigkeit zu betrachten, wird in unser Kultur meist explizites Ernährungswissen als „Heilmittel“ verstanden. Frei nach dem Motto: Wenn wir nur wissen, was richtig ist, werden wir es schon tun. Damit ist die Suche nach „der richtigen Ernährungsweise“ eingeläutet. Aber meiner Ansicht nach ist diese Suche unergiebig. Denn, wenn wir Essen als Sprache betrachten, ist die Spaltung in „richtig“ und „falsch“ unzureichend. Denken wir wieder an die gesprochene Sprache wird dies deutlich:

Hochdeutsch wird oft als allgemein verbindliche Sprache definiert, aber deswegen „schmeckt“ sie den einzelnen Individuen im deutschsprachigen Raum noch lange nicht.

Essen ist Geschmacksache

Über Geschmack lässt sich nicht streiten. Dennoch tun wir es – meistens mit uns selbst. Wer hat keine Ernährungsgewohnheiten, die er*sie für „falsch“ hält? Andererseits hilft diese negative Einschätzung des eigenen Verhaltens im Normalfall ganz und gar nicht dabei, dieses auch zu verändern. Woran liegt das? Wenn Essen so stark mit unserer kulturellen Herkunft und Identität verknüpft ist wie unsere Muttersprache, dann ist das Lernen von Grammatik und Vokabeln/ Ernährungswissen nur die halbe Miete. Mindestens genauso wichtig ist es, Essen als Fähigkeit zu entfalten und sich damit individuell zum Ausdruck zu bringen. 

Essen als Ausdruck

Ein Mensch, der sich ausschließlich an normative Sprachregeln hält, würde uns befremdlich erscheinen. Dialekte, Slang, im Familien- und Freundeskreis entstandene Wortwitze und „Insider“ etc. machen Sprache erst zu etwas Lebendigem. Beim Essen verhält es sich genauso. Wer nur nach normativen Essregeln lebt, kann sich nicht richtig ausdrücken. Der „richtige“ Ausdruck ist individuell unterschiedlich und wird durch Ausprobieren, Zufall, Fehlermachen und -reflektieren gebildet und geformt.

AHA – Essen als Fähigkeit und Ausdruck

Worin genau bestand also mein AHA-Moment? Nun, ehrlich gesagt, habe ich Essen lange Zeit als eine Dichotomie zwischen „richtig“ und „falsch“ betrachtet. Habe ich über meinen Hunger hinausgegessen, kein Gemüse bei der Mahlzeit gehabt oder viel Süßes gegessen – falsch. Habe ich hingegen langsam und achtsam gegessen, „gesunde“ Lebensmittel gewählt und 16:8 gefastet – richtig. Ich war in einem „Alles-oder-nichts-Denken“, was mir durch meinen AHA-Moment bewusst wurde. 

Abkehr vom rigiden System des „Richtig“ vs. „Falsch“

Im Rückblick verlief meine Abkehr vom rigiden System des „Richtig“ vs. „Falsch“ bereits seit mehreren Jahren. Es ist jedoch das Bewusstwerden über diese Entwicklung, das mir die Möglichkeit gibt, anders darüber nachzudenken. Daraus haben sich sowohl meine therapeutische Haltung als auch unsere Workbooks entwickelt. Anstatt lediglich binär zwischen „richtig“ und „falsch“ zu unterscheiden, können wir uns selbst über unser Essverhalten besser kennen lernen und neugierig fragen:

„Wieso habe ich über meinen Hunger gegessen? Wie könnte ich es nächstes Mal anders machen? Warum hatte ich keine Lust auf Gemüse, sondern Eis? Was bringe ich mit meinem Essverhalten zum Ausdruck? Und so weiter und so fort.“

Essen ist Wohlstand

In meinen Augen ist es das vielleicht größte Paradox des modernen menschlichen Lebens, dass wir in dem historisch einmaligen Moment, in dem wir genug zu essen haben, nur noch darüber nachzudenken scheinen, wie wir „unsere Ernährung in den Griff bekommen können“. Ich möchte es anders machen! Genug zu Essen zu haben, ist Wohlstand. Einen guten Umgang mit der kalorischen Redundanz zu finden eine Herausforderung. Aber es ist eine schöne Herausforderung, die aus Fülle erwächst. Lasst sie uns genießen!

Finde auch du deinen Weg aus dem rigiden System des „Richtig“ vs. „Falsch“. Zum Beispiel mit den Workbooks von VerumVita®.