Essprobleme - Emanuels Geschichte

Essprobleme – Emanuels Geschichte

Essprobleme

Traditionell gehen wir in unserer Gesellschaft davon aus, dass Ernährung als mehr oder weniger abgetrennter Teil vom restlichen Leben zu betrachten sei. Bei Emanuel ist das auf jeden Fall anders. Seine Essprobleme begannen mit der Trennung seiner Eltern. Ein Lösungsweg wurde erst dann erkennbar, als er seine eigene Zerrissenheit überwinden konnte. Die Geschichte von Emanuel und seinen Essproblemen wirft eine philosophische Grundfrage auf: Ist Essverhalten eine Sache des bewussten Wissens und Handelns oder eine tief mit unserer Identität verstrickte, großenteils unbewusst ablaufende Angelegenheit?

Essgeschichten – Vorbemerkung

Immer wieder mache ich die Erfahrung, dass das was die Menschen glauben, was ich beruflich tue und das was ich tatsächlich tue zwei völlig unterschiedliche Paar Schuhe sind. Ernährungsbildung, -beratung und -therapie kann nur dann erfolgreich sein, wenn sie die Menschen da abholt wo sie stehen. Wie das konkret aussehen kann, möchte ich über Geschichten aus meinem Berufsleben vermitteln. Identitäten werden dadurch geschützt, dass die Namen, Orte und Handlungen so verändert werden, das niemand das Gefühl bekommt, es ginge um ihn oder sie persönlich. Viel Spaß mit „Emanuels Essprobleme – Eine Lebensgeschichte“.

Emanuels Lebensgeschichte

Als Emanuel geboren wurde, war er Wunschkind und Sonnenschein. Seine Eltern kamen aus der gehobenen Mittelschicht und waren schon Mitte 30 als sie sich dazu entschieden, ihre Gene doch noch an die nächste Generation weiterzugeben. Dementsprechend stolz und hochmotiviert waren sie, anderen und sich selbst zu zeigen, dass sie reif und fähig wären, Kinder in die Welt zu setzen und zu erziehen. Auch die Großeltern waren schlichtweg entzückt, den kleinen Jungen nach allen Regeln der Kunst verhätscheln und verwöhnen zu können. Das Leben hätte nicht besser anfangen können. 

Elterliche Unreife und Essprobleme

Doch leider waren Emanuels Eltern nicht so reif und fähig, wie sie sich das erhofft hatten. Das Kinder-Kriegen war leichter als das Kinder-Großziehen. Außerdem muss die eigene Beziehung ja bekanntlich ziemlich stark sein, wenn sie die stürmischen Anforderungen von kleinen Kindern überstehen soll. Das war sie leider nicht. Nachdem Emanuels Schwester Nora geboren wurde, dauerte es nur noch ein Jahr bis die elterliche Beziehung so zerrüttet war, dass ihre Mutter nur noch die Möglichkeit der Trennung sah. 

Väterliche Gewalt

Emanuels und Noras Vater neigte zu Jähzorn, patriarchalischem Machtverhalten und Egozentrismus. Das hielt die Mutter von Nora und Emanuel irgendwann nicht mehr aus. Nachdem die väterliche Gewalt physisch eskalierte und auch die Kinder traf, flüchtete sie aus der Beziehung. Doch die Mutter von Emanuel und Nora wollte, dass die Kinder mit einer Vaterfigur aufwachsen und zog daher nicht zurück nach Italien, wo ihre Wurzeln und ihr Herz lagen und ihre fünf Geschwister lebten. Stattdessen zog sie ein paar Häuserblocks weiter in eine Dachgeschosswohnung mit schrägen Wänden, an denen man sich prima den Kopf stoßen konnte. 

Essprobleme – Wenn Kinder benutzt werden

Der Vater blieb in der alten, großen Wohnung wohnen und wandte sich seinem eigenen Leben zu. Zwar kümmerte er sich in dem Sinne um Emanuel und Nora, dass er regelmäßigen Kontakt pflegte, allerdings bleibt bis zum heutigen Tag unklar, ob das für die beiden Kinder eher gut oder schlecht war. Denn ihr Vater hatte ein gewaltiges Ego und verkraftete es schlecht, verlassen worden zu sein. Seine Machtlosigkeit machte ihn wütend und nachtragend. Er hasste seine Expartnerin und konnte sich nicht zurückhalten, in jeder möglichen Situation vor Emanuel und Nora schlecht über deren Mutter zu sprechen. 

Gut & böse

Dadurch stellte er Nora und Emanuel immer wieder vor die Glaubensfrage von gut und böse. Für kleine Kinder ist es schwierig, sich entscheiden zu müssen, welcher der beiden Elternteile, die man nunmal beide liebt, denn der Gute und wer der Böse ist. Sollte es nicht die Aufgabe von Eltern sein, Konflikte auszuhalten und ihren Kindern beizubringen, dass sowohl Mama als auch Papa es wert sind geliebt zu werden? Viele Emotionen, die in diesem komplexen Familiensystem moderten und wucherten, mussten verarbeitet werden. Weder Emanuel noch Nora lernten von ihrem Vater, wie der Umgang mit starken Emotionen angemessen funktioniert. 

Gemeinsam alleine – Essen als Zuflucht

Kurzum, Emanuel und Nora wurden aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen und verloren ihre Heimat. Emanuel war oft sehr sehr traurig, aber ihm fehlten die Gesprächspartner um seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen. Seine Mutter war überfordert. Alleinerziehend mit zwei traumatisierten kleinen Kindern und einem Expartner, der mit allen Mitteln versucht sich an ihr zu rächen. Da der Vater die Unterhaltszahlungen verweigerte musste sie bald nach der Trennung wieder arbeiten. Die Verhaltensauffälligkeiten, inklusive den sogenannten Essproblemen, die Emanuel nach der Trennung zeigte, machten es nicht leichter. Mit seinem Vater konnte Emanuel auch nicht sprechen. Wenn er versuchte, seine Gefühle zum Ausdruck zu bringen, wollte der Vater nichts davon wissen. 

Das Sprichwort „Seine Gefühle in sich hineinfressen“ ist vielleicht mehr als eine Floskel.

Essprobleme als Sprache

Über das Essen versuchte Emanuel seine Gefühle von Traurigkeit und Wut zu bewältigen. Aber nicht nur das. Sich problematisch zu verhalten, wurde schnell zur besten Möglichkeit, Aufmerksamkeit von seinem Umfeld zu bekommen. Emanuels Essprobleme lassen sich so auch als Lösung für einen tief empfundenen Mangel begreifen. Wenn Emanuel mal wieder den Kühlschrank geplündert hatte, wurde er ausgeschimpft und bestraft. Doch immerhin bekam er auf diese Weise die Aufmerksamkeit, die er so dringend benötigte. Er kam über seine Essprobleme in Kontakt mit seinen Eltern und seiner Schwester. 

Der Wunsch nach Kontakt

Intensiven Kontakt zu seinen Mitmenschen zu haben ist ein elementares menschliches Bedürfnis. Bei Emanuel kam dieses Bedürfnis nach der elterlichen Trennung zu kurz. Essen war seine vielschichtige Möglichkeit seinem Wunsch nach zwischenmenschlichem Kontakt zu begegnen. In einem gesunden Familienumfeld entsteht der Kontakt ganz automatisch durch alltägliche Begegnungen. Der familiäre Esstisch ist hierzu hervorragend geeignet. Bei Emanuel jedoch war dieser Kontakt in vielerlei Hinsicht gestört. Die Konsequenz war ein Phänomen, das sich sprachlich in die Schublade „Essprobleme“ einordnen ließ. 

Essprobleme und Körperentwicklung

Emanuels Essprobleme wirkten sich natürlich auch auf seinen Körper aus. Regelmäßige Essattacken führten zu Mehrgewicht. Als Emanuel acht Jahre alt war, stellte ein Kinderarzt die Diagnose „Adipositas“. Auf einmal war seine Mutter alarmiert. Adipositas sei ja wirklich schlimm, wurde ihr mitgeteilt. Besonders in einem so jungen Alter. Das verfestige sich und am Ende würde Emanuel als Erwachsener schlimm krank werden deswegen. Man müsse ihn zu mehr Sport animieren und auf eine strenge Diät setzen. 

So wurde die vermeintliche Lösung zum Teil des Problems. 

Die Lösung als Problem

Die Folgen des Phänomens „Adipositas“, das Emanuel nun übergestülpt wurde, war in vielerlei Hinsicht hilfreich. Zum einen konnte der Rest der Familie ihre eigenen Probleme schön in den Hintergrund drängen. Es war ja offensichtlich. Das Problem hatte eindeutig Emanuel. Er war ja furchtbar dick, fettsüchtig, krank. Ihm musste geholfen werden. Auch für Emanuel war die vorgeschlagene Lösung prima. Plötzlich bekam er all die Aufmerksamkeit, die ihm vorher so sehr gefehlt hatte. Das schweißte besonders ihn und seine Mutter zusammen. Denn nun konnten sie gemeinsam an seinem Problem arbeiten. 

An der Spitze des Eisbergs kratzen

Vielleicht hatte es Emanuel als einziger durchschaut. Wahrscheinlich blieb es jedoch unbewusst, dass Dicksein die Lösung all seiner Probleme war. Je dicker er wurde, desto besorgter wurden alle um ihn. Seine Mutter, Nora, Ärzt*innen, Lehrer*innen, alle schenkten ihm ihre Aufmerksamkeit. Sogar sein Vater bemerkte ihn ab und an mal. Obwohl seine Kommentare ihn erniedrigten und sich lediglich auf seine mangelnde Disziplin bezogen. Immerhin wurde er beachtet. Nach und nach verfestigten sich Emanuels Essprobleme zu einem Teil seiner Identität. Er war nunmal der Dicke. Überall bekam er Aufmerksamkeit deswegen, auch wenn diese meist negativ und erniedrigend war. 

Die Identität als Dicker

Als dicker Mensch war Emanuel von Früh an Erniedrigung, Diskriminierung und Stigmatisierung ausgesetzt. Dennoch hat er es geschafft, beruflich erfolgreich zu sein. Er ist intelligent und erkannte irgendwann, dass er Hilfe braucht. Mit 14 Jahren hat er sich mit Unterstützung seiner Mutter dafür entschieden eine Psychotherapie zu machen. Das hat ihm in vielerlei Hinsicht geholfen. Beruflich ist er erfolgreich, hat ein Ingenieurstudium abgeschlossen und arbeitet für ein Bauunternehmen. Seine Arbeit macht ihm Spaß und so lebt er sein Leben in vielerlei Hinsicht zufrieden. 

Essprobleme und Ernährungsberatung

Als Emanuel 18 geworden ist, versuchte er das erste Mal selber gezielt seine Ernährung umzustellen. Es fiel ihm jedoch enorm schwer. Nach einigen erfolglosen Versuchen suchte er eine professionelle Ernährungsberatung auf und wurde herbe enttäuscht. All das, was ihm dort geraten wurde, konnte er genauso gut im Internet lesen. Den Ernährungskreis und in die Ernährungspyramide hatte er bei seinen Onlinerecherchen schnell gefunden. Tipps, wie Abends doch einfach mal auf seine geliebten Chips zu verzichten und stattdessen Karotten zu knabbern, waren naheliegend, aber nicht sonderlich hilfreich.

Beziehungswiederholung 

Die Ernährungsberaterin war zwar nett gewesen. Aber Emanuel merkte schnell, dass ihre Tipps dem entgegenwirkten, was er eigentlich wollte. Sie schienen seine Essprobleme eher noch zu verstärken. Wenn er Abends nach der Ernährungsberatung nach Hause kam, hatte er noch ihre Stimme im Ohr. Komischerweise klang sie im Nachhinein immer genau wie die Stimme seiner Mutter. Während er sich eine Extraportion Chips in den Mund schob, hörte er sie sagen:

„Wenn Sie wieder Lust auf Chips bekommen, sagen Sie einfach laut und deutlich „STOPP“ zu sich selbst.“ 

Ernährungspsychologie

Wie schön wäre es gewesen, wenn Emanuels Ernährungsberaterin schon einmal etwas von Übertragung und Gegenübertragung gehört hätte. Hatte sie leider nicht. Nach der dritten erfolglosen Stunde, in der sie sich miteinander stritten, wurde es Emanuel zu bunt. Er brachte die letzte Stunde zwar tapfer zu Ende, entschloss sich allerdings nie wieder zu ihr zu gehen. Nach der Ernährungsberatung gab Emanuel auf. Zumindest in Bezug auf seine Ernährung. Er war halt einfach süchtig nach Süßigkeiten, Chips und anderen Leckereien. Erst als er bereits Mitte 30 war und sein Diabetologe ihn wiederholt gewarnt hatte, dass er kurz vor einem Diabetes Typ 2 stünde, machte er sich noch einmal auf die Suche nach jemandem, der sich mit Ernährung und Psychologie auskannte.

Essprobleme verstehen 

Als Emanuel zu mir in die Ernährungstherapie kam, war er verständlicherweise skeptisch. Wie sollte ich ihm schon helfen können? Erstmal ließ ich ihn erzählen, wie es denn dazu gekommen sei, dass wir jetzt hier zusammensitzen. Als er merkte, dass ich ihm keine ungefragten Ratschläge erteilen würde, entspannte er sich sichtlich. Er erzählte mir seine Geschichte und ich verstand. Wie gesagt, Emanuel ist ein hochintelligenter Mann. Dadurch konnte er sich viele seiner Essprobleme bereits selbst erklären. Er selbst durfte in unseren Beratungssitzungen der Experte für sein Essverhalten und sein Leben sein. 

Innere Kämpfe

Im Laufe der ersten Stunden wurde Emanuel klar, dass er seit seiner Jugend einen inneren Kampf führte. Die Stimme der Vernunft, verkörpert durch seine Mutter, riet ihm immer wieder gesünder zu leben. Aber da war noch eine andere Stimme in seinem Inneren. Ein kleiner Junge, der gegen die Stimme der Vernunft anschrie. Nein, er würde sich seinen Genuss nicht verbieten lassen. Seine Mutter hatte ihm gar nichts zu sagen und das demonstrierte Emanuel ihr ganz eindeutig, indem er beim Essen über die Strenge schlug. 

Essprobleme lösen

Irgendwann kam Emanuel bei mir in die Praxis und erzählte stolz: „Ich habe es verstanden“. Auf meine Nachfrage erklärte er mir, dass er sich entschieden habe seinen Eltern zu verzeihen. Er wolle nicht mehr die Wut auf seinen Vater in sich hineinfressen und nicht mehr gegen die Regeln seiner Mutter ankämpfen. Stattdessen wolle er lernen auf sich selbst zu hören, seiner eigenen inneren Stimme zu vertrauen. Im Laufe der nächsten Beratungstermine machte Emanuel erstaunliche Fortschritte. Er begann einen Kochkurs zu besuchen und lernte dort sogar eine Frau kennen, die ihm gefiel. Und er schien ihr auch zu gefallen. An dieser Stelle entschied Emanuel, dass es Zeit sei, die Ernährungstherapie zu beenden. Er fühlte sich nun bereit, selbst für sich und seine Gesundheit zu sorgen.

Essprobleme – Der Versuch eines Fazits

Essprobleme sind vielfältig. Bei Emanuel saßen die Probleme tief. Durch seine Bereitschaft, sich diesen zu stellen, konnte ich ihn auf seinem Weg zu einem gesünderen und guten Leben unterstützen. Das ist nicht selbstverständlich. Wir alle bestreiten unsere inneren Kämpfe und manchmal werden sie ein Teil unserer Identität. Essprobleme über Ratschläge, Zwang und strenge Regeln lösen zu wollen, halte ich persönlich für illusorisch und aussichtslos. Deswegen halte ich eine ernährungspsychologische Herangehensweise für die einzig wirksame. Doch dafür muss man, wie Emanuel, dazu bereit sein unter die Oberfläche zu schauen, statt nur an der Spitze des Eisbergs zu arbeiten.

Essprobleme mit Happy End?

Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob und wenn ja wieviele Kilogramm Gewicht Emanuel durch die Ernährungstherapie verloren hat. Danach würde ich ihn niemals fragen. Es war und ist schlichtweg nicht der springende Punkt. Emanuel hat etwas viel Schwerwiegendes über sich selbst gelernt. Er hat sich selbst dazu in die Lage versetzt, für sich und seine Gesundheit sorgen zu können. Diese Erkenntnisse lassen sich weder in Kilogramm noch in Lebensjahre umrechnen. Ein Happy End gibt es in keinem Leben. Leben ist hart, mit Schmerzen und Verlusten gepflastert und am Ende stirbt jede*r von uns. 

Aber ich bin davon überzeugt, dass ich mit meiner Arbeit ein bisschen etwas dazu beitragen konnte, dass Emanuel ein gutes und gelingendes Leben führen kann. Darauf bin ich stolz.