Körperfett - ein unterschätztes Organ

Körperfett – ein unterschätztes Organ

Körperfett – ein unterschätztes Organ

Wenn wir im gesellschaftlichen Diskurs über Körperfett sprechen, dann nahezu ausschließlich im negativen Sinne. In besagtem Diskurs wird stets darüber gefachsimpelt, wie man das Körperfett möglichst schnell, effektiv und langanhaltend loswerden könne. Trotz der Vielzahl verfügbarer Diäten ist Körperfett für die meisten Abnehmwilligen der absolute Endgegner. Es gilt als hässlich, nervig und ungesund. Aber was wäre, wenn Fett auch positive, schützende Eigenschaften hätte? In diesem Blogbeitrag widmen wir uns dem unterschätztesten Organ im menschlichen Körper und schneiden die Frage an, wie das Körperfett einen so schlechten Ruf bekommen konnte.

Das böse Körperfett

Wenn wir in westlichen Kulturen eine Meinungsumfrage über das nervigste Organ im Körper veranstalten würden, wäre das Körperfett vermutlich der Gewinner. Es stellt sich lediglich die Frage, wie vielen Menschen überhaupt bewusst ist, dass Körperfett ein vielseitiges und stoffwechselaktives Organ darstellt. Gerade für diejenigen die mit dem zweifelhaften Glück gesegnet sind, viel Körperfett speichern zu können, ist dieses meist nichts weiter als ein nerviges Anhängsel. Auch beim Arztbesuch hören die meisten dicken Menschen nichts von den potenziell schützenden Eigenschaften ihrer Energiespeicher. 

Diäten, Ernährungsumstellungen und notfalls Operationen sollen helfen, das leidige Körperfett endlich mal loszuwerden. Der Erfolg dieser Interventionen bleibt zweifelhaft, aber der Kampf geht weiter.

Nervige Körperorgane

Das Herausoperieren von „nervigen“ Körperorganen ist in unserer Kultur zum Trend geworden. Wurmfortsatz, Gaumenmandeln oder Körperfett. „Alles raus was stört“ scheint die Devise der modernen Chirurgie zu sein. Aber wie sinnvoll ist diese Devise? Abwägungsfrage! Während bei einem entzündeten Wurmfortsatz die operative Entfernung als potenziell lebensrettend gilt, hat sich das Absaugen von subkutanem Körperfett als weitestgehend wirkungslos herausgestellt. Kein Wunder. Körperfett ist ein komplexes, über den ganzen Körper verteiltes Organ und lässt sich nicht effektiv heraus operieren.

Kein Grund aufzugeben… Nun wird Körperfett seit einigen Jahrzehnten durch Eingriffe am Magen-Darm-Trakt indirekt bekämpft. 

Neue Erkenntnisse über Körperfett

Die Anzahl der jährlichen bariatrischen Operationen nimmt kontinuierlich zu, obwohl die Auswirkungen wissenschaftlich noch lange nicht vollständig verstanden sind. Das liegt unter anderem daran, dass das Körperfett, welches durch die Operationen bekämpft werden soll, selbst noch gar nicht umfassend erforscht ist. Was die Forschung in den letzten Jahren und Jahrzehnten herausgefunden hat, lässt das Körperfett jedoch vom abgeschobenen Außenseiter zu einem Organ von höchstem Interesse werden. Denn wissenschaftlich gesehen, ist Körperfett alles andere als nervig oder langweilig. Es hat verschiedene Funktionen für unseren Stoffwechsel und kann uns potenziell sogar vor Krankheiten schützen. 

Leider dauert es meist ziemlich lange, bis die wissenschaftlichen Erkenntnisse auch Einzug in die alltägliche Praxis finden (Vgl. Klimawandel und -schutz et al.).

Fragen über Fragen

Es ließe sich fragen, warum das Körperfett so in Verruf geraten ist. Wenn es sogar gesundheitsförderliche Auswirkungen zeitigen kann, wäre es doch äußerst wahnwitzig, dass die Adipositasforschung in den letzten 200 Jahren nahezu ausschließlich danach gefragt hat, was das Körperfett problematisch macht. Warum hat bis vor kurzem kaum jemand danach gefragt, ob es auch positive Auswirkungen haben kann, viel Fett in seinem Körper speichern zu können? Was hat die Adipositasforschung selbst mit der Fett-Diskriminierung zu tun? Warum wird ein mathematisches Modell (Body-Mass-Index) auf einzelne Menschen angewandt und dafür genutzt, diese Menschen in die Matrix „gesund/krank“ einzusortieren?

Die ausführliche Beantwortung dieser Fragen würde den Rahmen dieses Blogbeitrags sprengen. Buchempfehlung hierzu: „Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem“ von C. Klotter

Gesellschaftlicher Fortschritt?

Es ist schon komisch, sich selbst beim Denken und Fühlen zu beobachten. Für mich fühlt es sich, wenn ich auf die Vergangenheit schaue, oft so an als wenn wir heute schon unfassbar weit gekommen wären. So von Menschenrechten her. Mit Gleichberechtigung und Demokratie und so. Wenn ich darüber nachdenke, dass Frauen bis 1979 ihren Mann um Arbeitserlaubnis fragen mussten, dass Homosexualität bis 1994 verboten war und Vergewaltigung in der Ehe erst 1997 illegal geworden ist… In Deutschland!!! Nicht in irgendeinem dritte-Welt-Land ohne demokratische Verfassung. Wenn ich darüber nachdenke, sträubt sich alles in mir und gleichzeitig empfinde ich unsere gesellschaftliche Entwicklung dann als äußerst fortschrittlich. 

Aber, denke ich mir dann, wie werden wir wohl in 20-30 Jahren über die offen zur Schau getragene Stigmatisierung und Diskriminierung von dicken Menschen denken?

Freundliches Körperfett?

Seit einiger Zeit beschäftigen sich Forschende nicht mehr ausschließlich mit der Frage, wie schlimm Körperfett ist und wie man es möglichst effektiv bekämpfen kann. Mittlerweile gibt es einige progressive Wissenschaftler*innen, die die gängigen Vorurteile über Körperfett hinterfragen. Aus dieser kritischen Auseinandersetzung mit dem Status Quo ist 2019 die sogenannte „Friendly-Fat-Theory“ entstanden. Diese Theorie beschäftigt sich unter anderem mit der paradoxen Erkenntnis, dass ein höherer Körperfettanteil Diabetes-Typ-2-Erkrankte vor schweren Krankheitsverläufen zu schützen scheint. Denn eigentlich gelten Adipositas und Diabetes-Typ-2 doch als epidemiologische Geschwisterkinder, oder?

Widersprüchliche Erkenntnisse

Bevor wir jetzt selbst einseitig werden, muss erwähnt werden, dass in einer Längsschnittstudie, die Herzerkrankungen untersuchte, 89 % derjenigen, die an Diabetes Typ-2 erkrankten, laut Body-Mass-Index (BMI) übergewichtig oder adipös waren. Es muss jedoch ebenfalls erwähnt werden, dass in einer schottischen Metastudie mit 29.000 Proband*innen, bis zu einem BMI von 40 keine erhöhte Gesamtsterblichkeit festgestellt werden konnte. Darüber hinaus geben diese beiden Studien klare Hinweise darauf, dass Diabetiker*innen, deren Körper nicht dazu in der Lage sind subkutanes Körperfett einzulagern, deutlich schwerere Krankheitsverläufe erleben als die dickeren Erkrankten. 

Evolutionäre Vorteile von Körperfett

Fragt man im darwin’schen Sinne nach den evolutionären Vorteilen von Körperfett, ist offensichtlich der Energiespeicher zu nennen. Dieser hat unsere Vorfahren durch schwere Zeiten gebracht. Vermutlich sind in Hungerperioden die Menschen ohne ausgedehnte Körperfettspeicher schlichtweg verhungert. Übrig geblieben sind die, die mehr Körperfett einlagern können. Energie speichern und konservieren zu können, um in Zeiten der Nahrungsknappheit versorgt zu sein, ist eine sinnvolle Erfindung der Evolution. Heute haben wir diese Erfindung technologisch nachempfunden. Zum Beispiel über Kühlschränke.

Körperfett und Gehirn

Interessant ist in diesem Zusammenhang auch, dass unser Gehirn ca. drei Mal so groß ist, wie das unserer nächsten Verwandten, den Schimpansen. Zudem ist unser Gehirn sehr energiehungrig. Vom gesamten Energiebedarf unseres Organismus entfallen 20 -25 % auf unser Gehirn. Unser Gehirn ist das Organ, was uns neben dem Körperfett vom restlichen Primatenreich abhebt. Also bis auf die Tatsache, dass wir anderen Affenarten von Muskelkraft, Zahn- und Krallen(?)-Schärfe gnadenlos unterlegen sind. So besteht bei unseren nächsten Verwandten (Schimpansen und Co.) durchschnittlich neun Prozent der Körpermasse aus Fett. Im Vergleich dazu sind bei uns Menschen Körperfettanteile von mehr als 20 % alles andere als unüblich.

Es wird vermutet, dass die evolutionär gewachsenen Anteile von menschlichem Gehirn und Körperfett am Gesamtkörpergewicht miteinander in Zusammenhang stehen.

Weitere Funktionen von Körperfett

Über die Funktion als Speicherorgan von Energie hinaus ist Körperfett an weiteren wichtigen biologischen Funktionen beteiligt. Zum Beispiel spielt das Fettgewebe bei der Fortpflanzung und Wärmeregulation des Körpers eine entscheidende Rolle, dient als Polster bei mechanischen Belastungen (zum Beispiel unter den Fußsohlen) und besitzt formgebende Struktureigenschaften. Zudem ist Fett nicht gleich Fett. Es gibt weiße, braune und beige Fettzellen im menschlichen Körper, die unterschiedliche Eigenschaften und Funktionen aufweisen. Körperfett ist also ein vielseitiges Organ.

Das kommunikative Körperfett

Fett ist also nicht nur ein herumhängendes und störendes Gebilde, sondern für unseren Stoffwechsel, unsere Fortpflanzung und unsere Gesundheit von höchster Wichtigkeit. 2013 waren bereits 100 vom Körperfett produzierte Hormone und Botenstoffe bekannt, durch das unser Fettgewebe mit Gehirn, Muskulatur und anderen Organen kommuniziert. Weitere 100 Stoffe werden vermutet. Über diese Kommunikationswege werden unter anderem Hunger und Sättigung, Blutdruck, Blutgerinnung, Neubildung von Blutgefäßen und vieles mehr geregelt.

Körperfett hat zudem verschiedene, zum Teil widersprüchliche Einflüsse auf unser Immunsystem

Körperfett und Immunsystem

Neben der Aufteilung zwischen weißen, braunen und beigen Anteilen, lässt sich das Körperfett auch bezüglich seiner Lokalisierung charakterisieren. Das Unterhautfettgewebe (subkutanes Fett) scheint im Gegensatz zum viszeralen Fettgewebe, das sich zwischen den Organen bildet, eher entzündungshemmende Funktionen zu haben. Hohe Anteile an viszeralem Fett hingegen gelten eher als entzündungsfördernd und lassen sich als kurzfristige Notlösung des Körpers interpretieren. Das viszerale Körperfett ist laut aktuellem Forschungsstand für die meisten der gesundheitsschädlichen Eigenschaften von Körperfett verantwortlich.

Der Badewannen-Vergleich

Laut friendly-fat-theory ist ein wachstumsfähiges Unterhautfettgewebe deswegen freundlich, weil es dabei hilft, überschüssige Energie, die im Blut herum schwimmt (in Form von Glucose oder Fettsäuren) „auszulagern“. Der irisch-britische Biochemiker und Endokrinologe, Sir Stephen O’Rahilly beschreibt mit seinem Badewannenvergleich, was vereinfacht herunter gebrochen im Körper passiert, wenn Körperfett gebildet werden kann oder eben nicht:

„Angenommen unser subkutaner Körperfettspeicher sei eine Badewanne. Dann ist das Volumen der Badewanne unsere individuelle Fähigkeit Unterhautfettgewebe zu bilden. Sobald diese Kapazität ausgeschöpft ist und die Badewanne überläuft, wird das Badezimmer überschwemmt. Das Badezimmer stellt unsere Blutgefäße dar. Ärzt*innen würde im beschriebenen Fall erhöhte Blutzucker- und/oder Blutfettwerte feststellen. Wischen wir das Übergelaufene auf und füllen es in Eimer haben wir quasi das Körperfettvolumen auf das viszerale Fettgewebe erweitert. Eine Notlösung um die restlichen Zimmer des Hauses (unsere Organe wie Leber, Herz u.ä.) zu schützen.
Daraus folgt: Je größer das Volumen der Badewanne, desto besser für unsere Gesundheit. Zumindest, wenn mehr Energie reinkommt als verausgabt wird.“

Dicksein

Warum werden manche Menschen dick und andere nicht? Eine einfache und eindeutige Antwort wurde bislang nicht gefunden. Genetische Faktoren spielen definitiv eine große Rolle. Frühe Kindheitserfahrungen und Traumata können ebenfalls Einfluss nehmen. Bewegung und Ernährung sind auch an der komplexen Gleichung beteiligt. Fakt ist: Viele Menschen nehmen in Wohlstandsgesellschaften zu und manche Menschen werden dicker als andere. Aus meiner Erfahrung in der Ernährungsberatung und Ernährungstherapie kann ich sagen, dass hinter jedem Menschen eine individuelle Geschichte steckt.

Ich wünsche mir in einer Gesellschaft zu leben, in der diese individuellen Geschichten respektiert werden, ohne erzählt werden zu müssen. Unabhängig von Körpergewicht und -form.

Körperfett und Ideale

In einigen Kulturen und Epochen, zum Beispiel im Europa des 17. Jahrhundert gilt und galt Körperfett und -fülle als Schönheitsideal. Es scheint so, als ob in den Epochen, in denen dick werden nicht so leicht erreichbar war, das Dicksein besonders begehrenswert erschien. Und andersherum. Wenn es zu wenig zu essen gibt, ist Dicksein angesagt. Im Überfluss sollen alle auf einmal gertenschlank sein. Dazu passend fällt auf, dass auf den verschiedensten Ebenen meist das als Ideal definiert wird, was schwer oder gar nicht erreichbar ist. Das Begehrte ist stets das Rare. Ich verstehe es ja grundsätzlich. Seltene Edelsteine, teure Autos, begrenzte Güter und Dienstleistungen sind etwas Besonderes, da sie nicht jeder erwerben und besitzen kann.  

Warum aber diese Verknappungslogik auf Körper anwenden? Entwürdigen wir uns damit nicht selbst und degradieren uns zur Ware?

Dick bleibt (meistens) dick

Wenn wir uns die erschlagene wissenschaftliche Evidenz anschauen, sehen wir, dass Diäten nicht funktionieren, starke Gewichtsabnahmen (fast) immer im Jojo-Effekt enden und dicke Menschen so gut wie immer dick bleiben bzw. es nach spätestens drei Jahren wieder werden. Die „beste“ Lösung die unsere Kultur gefunden hat, um das Dicksein zu bekämpfen, ist die betroffenen Menschen aufzuschneiden und ihren Magen-Darm-Trakt teilweise wegzuoperieren. Ein immenser, meist irreversibler Eingriff, der verschiedene körperliche und psychologische Implikationen mit sich bringt.

Kultureller Sadismus

Man stelle sich vor, wir würden gesellschaftlich so mit Sexualität verfahren. Also einen großen Teil der Bevölkerung als „zu sexuell“ oder „zu wenig sexuell“ einstufen. Stellen wir uns vor, wie es wäre, wenn wir einen beliebigen Wert als Norm definieren würden. Sagen wir, 1-2 Mal pro Woche Sex oder Masturbation sei vertretbar. Alles darüber oder darunter sei deviant und daher falsch. Auf ein Mal würden sich fast alle Menschen darüber Gedanken machen warum sie so viel oder so wenig Lust auf Sex haben. Sie würden sich schlecht fühlen aufgrund von individuellen Unterschieden, die es nun Mal bezüglich sexueller Lust gibt und vergeblich versuchen sich zu verändern. So würde eine große Bandbreite nicht schädlicher Verhaltensweisen künstlich pathologisiert.

Die gesundheitlichen Schäden, die der damit verbundene Stress auslösen würde, sind kaum zu überschätzen.

FALSCHgewichtig

Folgt man den Zahlen des renommierten Robert-Koch-Instituts, sind 54 Prozent aller Menschen in Deutschland übergewichtig oder adipös (BMI >25). Gleichzeitig gibt es dann natürlich noch diejenigen, die zu dünn genannt werden. Wieviele den angeblich idealen BMI aufweisen, weiß ich nicht. Ist mir auch egal. Zusammenfassend sei gesagt: Weit weniger als die Hälfte aller Menschen hier in Deutschland sind nach diesen Zahlen „normalgewichtig“ und wenn mehr als fünf Prozent aller Menschen Idealgewicht hätten, wäre ich überrascht. Wir sind also (fast) alle falsch wie wir sind. Unsere Körper sind im Normalfall unnormal und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit nicht ideal.

Kultureller Selbsthass

Wenn weit mehr als die Hälfte aller Menschen zu dick oder zu dünn sein sollen, lassen sich daraus zwei entgegengesetzte Schlussfolgerungen ableiten. Erstens: Wir Menschen sind einfach schlecht, können uns nicht mäßigen und unsere Körper genügen den rationalen Normen nicht. Oder zweitens: Die angeblich so rationalen Normen bezüglich des Körpergewichts und Körperfetts sind völlig unrealistisch und willkürlich gesetzt. Im Rahmen der ersten Schlussfolgerung entscheiden wir uns dazu, den Menschen als mangelhaftes Wesen zu betrachten und uns kollektiv selbst zu hassen.

Mir gefällt die zweite Schlussfolgerung deutlich besser. Denn sie lässt Raum für Toleranz, Pluralismus und Lebensfreude.

Ernährungsphilosophische Schlussbetrachtung

Ich fasse die bis hierher zusammengetragenen Gedanken folgendermaßen zusammen: Körper(fett), Essen und Sex sind nicht per se nur gut oder schlecht. Möglicherweise hatten die antiken griechischen Philosophen mit ihrem Aufruf zur Mäßigung großenteils Recht. Allerdings halte ich das Finden des richtigen Maßes heute für so schwierig wie nie zuvor. Denn solange die kulturellen Normen oder die natürliche Verfügbarkeit das „richtige Maß“ automatisch und verbindlich regeln, ist das Leben in dieser Hinsicht einfach. 

In der Gesellschaft in der wir heute leben, ist es dagegen deutlich schwieriger das richtige Maß zu finden und zu halten. Denn wir müssen es individuell definieren und mit einem Überangebot zurecht kommen, das historisch einmalig ist.

Individualisiertes Maßhalten

Solange wir einfach nur Teil der Gemeinschaft sind und beispielsweise den geltenden Speisevorschriften des katholischen Kirchenkalenders folgen, dann wissen wir, wann wir was essen dürfen, auf welche Feste wir uns freuen können und wer diese Regeln festgelegt hat. Nämlich der liebe Gott bzw. sein Stellvertreter auf Erden, der Papst. Heute, da uns diese Gedankenstütze nicht mehr als selbstverständlich gegeben erscheint, müssen wir individuell definieren, wie das richtige Maß aussehen könnte.

Das daraus folgende Maßhalten bezieht sich auf alle Lebensbereiche. Auf essen und trinken, arbeiten, entspannen und feiern. Auf Sex, andere körperliche Aktivitäten, Bildschirmzeiten und und und…

Zeitgeist des Individualismus

Friedrich Nietzsche hat als erster Philosoph formuliert, dass Menschen nur im Rahmen ihres jeweiligen „Zeitgeist“ denken und sich verhalten können. Wir sind heute in unserer westlichen Kultur dazu gleichermaßen berechtigt und gezwungen individuell und autonom zu agieren. Das hat diverse Vor- und Nachteile, deren Analyse für die praktische Lebenskunst nicht sonderlich relevant sind. Viel wichtiger erscheint es mir, sich den Aufgaben zu stellen, die der individualistische Zeitgeist uns abverlangt. Also abzuwägen, was mir gut tut und was nicht, was ich in meinem Leben etablieren und welche Gewohnheiten ich ablegten möchte.

Daher heißt praktische Lebenskunst in meinen Augen auch, die kulturellen Normen und Regeln zu hinterfragen und diejenigen abzulehnen, die aussichtslos, überholt oder sogar zerstörerisch sind.

Körper, Essen und Sex

Zurück zum Körperfett: Böse Zungen würden behaupten, die Körpernormen folgten einer gemeinsamen Richtschnur: Alles was leicht ist und Spaß macht, wird verboten und alles was diesbezüglich von der Norm abweicht, ist Sünde. Somit sind unsere Körper per se verdammt oder stehen zumindest immer kurz vor der Verdammnis. Alles was körperliche Freuden auslöst, Essen, Drogen und Sex sind teuflische Verführungen. Um die ewige Erlösung zu erlangen, müssen wir also darben und uns kasteien. Nur, indem man alle materiellen Freuden ablehnt und zum Bösen erklärt, lässt sich angeblich das Himmelreich erklimmen.

Das klingt brutal nach frühchristlicher Gnosis und verdirbt uns das gute Leben im Hier und Jetzt.  

Das gute Leben

Warum sollten wir uns diesem gnostischen Blickwinkel unterwerfen? Gibt es einen rationalen Grund dafür, Essen und Sex abzulehnen sowie seinen eigenen Körper zu verdammen? Nein! Essen, Sex, eine gute Beziehung zum eigenen Körper und sogar Körperfett sind potenziell gesundheitsförderlich, sozial verträglich und Bestandteil eines guten Lebens. Sie taugen allesamt nicht zur Befreiung, aber das müssen sie auch nicht. Im individualistischen Zeitgeist müssen wir uns unsere eigenen Werte aussuchen. Welches Leben möchtest du als Individuum gestalten? Vielleicht ein gutes, gesundes, entspanntes, genussvolles, liebevolles, verantwortungsbewusstes, friedliches, (…)? 

Wenn wir nicht davon ausgehen, dass wir für das gute Leben büßen müssen, dann gibt es auch keinen Grund, das gute Leben abzulehnen.

Für die Unterstützung bei der Literaturrecherche danke ich Nils Ackemann und dir, für deine Aufmerksamkeit.

Hauptquellen zum Körperfett:

https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/31244907/ – Friendly Fat Theory – Explaining the Paradox of Diabetes and Obesity
https://www.nature.com/articles/nature17654 – Metabolic acceleration and the evolution of human brain size and life history
https://pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/24439368/ – What we talk about when we talk about fat
https://escholarship.org/uc/item/2811g3r3 – Medicare’s search for effective obesity treatments: diets are not the answer

Weitere Onlinequellen:

https://www.weltderwunder.de/artikel/welche-funktion-hat-der-blinddarm https://www.gesundheitsinformation.de/mandelentzuendung.html
https://www.bpb.de/politik/hintergrund-aktuell/180263/1994-homosexualitaet-nicht-mehr-strafbar https://www.mpg.de/8953555/mpi_evan_jb_2014
https://www.germanistik.uni-bonn.de/institut/abteilungen/abteilung-fuer-neuere-deutsche-literaturwissenschaft/abteilung/personal/sorg_bernhard/lehrmaterialien/gnosisuliteratur.pdf https://www.ugb.de/gesund-abnehmen-ohne-diaet/schlank-rank-muessen-wir-alle-so-sein/ https://www.dasgehirn.info/grundlagen/evolution/die-evolution-des-menschlichen-gehirns

Weitere Literatur:

  • Christoph Klotter – Adipositas als wissenschaftliches und politisches Problem; 1990
  • Christoph Klotter – Identitätsbildung über Essen, Ein Essay über „normale“ und alternative Esser; 2016 
  • Yuval Noah Harari – Eine kurze Geschichte der Menschheit; 2015