Drei Säulen für ein erfülltes Leben

Die drei Säulen für ein erfülltes Leben

Von Freud bis Lévinas: Die drei Säulen für ein erfülltes Leben

Sigmund Freud (1856–1939), der Begründer der Psychoanalyse, soll im Laufe seiner Korrespondenzen und Werke sinngemäß erklärt haben, dass ein Mensch als psychisch gesund gelten könne, wenn er „lieben und arbeiten“ kann. Obwohl dieses Bonmot in zahlreichen Varianten überliefert ist, zeigt sich darin ein zentraler Gedanke aus Freuds Werk: die Anerkennung, dass das Erleben erfüllter Beziehungen (Liebesfähigkeit) und das produktive Schaffen (Arbeitsfähigkeit) entscheidend für die psychische Gesundheit sind.

Freud machte in seinen Schriften immer wieder deutlich, dass der Mensch von inneren Trieben – vor allem dem Sexualtrieb (Libido) und dem Todestrieb – bewegt wird. Die Fähigkeit, diese Kräfte in eine konstruktive Bahn zu lenken, äußert sich in der reifen Gestaltung zwischenmenschlicher Beziehungen und in sinnstiftender Arbeit. Mit „lieben und arbeiten“ betont Freud somit die zwei wesentlichen Säulen eines seelisch ausgeglichenen Lebens.

Liebesfähigkeit: Mehr als nur Romantik

Unter „Liebe“ verstand Freud nicht ausschließlich romantische oder sexuelle Zuneigung, sondern auch die Fähigkeit, sich auf andere Menschen einzulassen und Bindungen aufzubauen. In der Sprache der Psychoanalyse spricht man häufig vom „Objekt der Libido“, also davon, wie sich unsere innere Energie (Libido) auf andere Personen richten kann.

  • Bindungsfähigkeit und Empathie: Liebesfähigkeit schließt eine tiefe Form von Verständnis, Wertschätzung und Nähe ein. Wer lieben kann, ist bereit, eigene Bedürfnisse zu kommunizieren und gleichzeitig die Bedürfnisse des Gegenübers zu respektieren.
  • Vertrauen und Offenheit: Sich auf jemanden einzulassen, verlangt eine gewisse innere Stabilität und die Bereitschaft, auch Verletzungen zu riskieren. Eine solche Offenheit kann nur entstehen, wenn das Fundament der eigenen Persönlichkeit gefestigt ist.

In diesem Sinne ist Liebesfähigkeit ein Indikator dafür, dass die inneren Konflikte ausreichend bearbeitet sind, um sich anderen Menschen emotional zu öffnen.

Was bedeutet es, arbeitsfähig zu sein?

Arbeitsfähigkeit wird bei Freud nicht nur im Sinne von Erwerbsarbeit oder Broterwerb verstanden, sondern ganz grundsätzlich als produktive Entfaltung der eigenen Kräfte und Potenziale. Hier geht es um die Fähigkeit, etwas zu schaffen oder zu gestalten – sei es im klassischen Berufsleben, in kreativen Tätigkeiten, in der Familie oder in ehrenamtlichen Engagements. Eine Person, die arbeiten kann, fühlt sich in der Lage, etwas Sinnvolles beizutragen und Verantwortung zu übernehmen. In der Freudschen Perspektive ist dies zugleich ein Zeichen dafür, dass die Person ihre inneren Konflikte so weit verarbeitet hat, dass sie Energie nach außen tragen kann und nicht dauerhaft in innere Kämpfe verstrickt ist.

Freuds Aussage, man könne nicht viel mehr von einem gesunden Menschen erwarten, rührt also daher, dass Liebe und Arbeit die beiden großen Säulen des menschlichen Daseins bilden. Wer diese beiden Fähigkeiten in sich vereint, hat eine solide Basis für psychisches Gleichgewicht und ein erfülltes Leben.


Emmanuel Lévinas und der Genuss

Trotz der weiterhin gültigen Bedeutung von „lieben und arbeiten“, zeigt sich in unserer modernen Gesellschaft, die immer stärker auf Individualität setzt, ein weiterer Aspekt: der bewusste Genuss.

Der französische Philosoph Emmanuel Levinas (1906–1995) führt hierzu eine zentrale Idee an: Genuss als Ausdruck unserer Unabhängigkeit. Er betont, dass wir im Moment des Genießens ganz auf uns selbst zurückgeworfen sind. Wir erleben eine Art Rückzug aus der Welt, in der wir sonst ständig mit anderen Personen interagieren und Verantwortung tragen. Beim Genießen verschaffen wir uns Raum, um unsere eigenen Wünsche und Bedürfnisse wahrzunehmen und zu erfüllen.

Genuss als Demonstration der eigenen Unabhängigkeit

Lévinas formuliert den Gedanken, dass Genuss unsere Art ist, unsere eigene Unabhängigkeit zu demonstrieren. Worauf zielt er damit ab? Genuss ist weit mehr als bloßes Konsumieren oder das flüchtige Befriedigen von Wünschen. Genießen heißt, etwas ganz bewusst als wertvoll und wohltuend zu erfahren – und damit den eigenen Freiraum auszuleben. Wer genießt, nimmt sich die Freiheit, für einen Moment aus den alltäglichen Zwängen und Pflichten auszusteigen und selbstbestimmt zu handeln. In diesem Sinn ist Genuss ein Akt der Selbstbestimmung, ein Ausdruck individueller Lebensfreude und damit auch ein Statement: „Ich bin frei, mich auf diese Erfahrung einzulassen und sie zu gestalten.“

Genuss und Individualisierung

Dieses Verständnis von Genuss als Ausdruck der Unabhängigkeit ist besonders in einer immer stärker individualisierten Gesellschaft von Bedeutung. Während Freuds „Lieben und Arbeiten“ eine notwendige Grundlage für ein stabiles Leben schafft, verleiht Levinas’ Begriff des Genießens dem Leben Tiefe und Eigenständigkeit. Es geht hier nicht nur um hedonistische Vergnügungen. Vielmehr spricht Lévinas von einer fundamentalen Haltung, in der wir bewusst wahrnehmen, wovon wir uns nähren – sei es geistig, emotional oder körperlich.

Genussfähigkeit als dritte Säule unserer Zeit

Führen wir Freuds „lieben und arbeiten“ mit Levinas’ „genießen“ zusammen, ergibt sich eine erweiterte Trias, die unserer gegenwärtigen Gesellschaft gerecht wird:

  1. Liebesfähigkeit: Beziehungen und Bindungen aufbauen, emotionale Tiefe und Verbundenheit zulassen.
  2. Arbeitsfähigkeit: Sinnstiftend tätig sein, sich selbst verwirklichen und kreativ Verantwortung übernehmen.
  3. Genussfähigkeit: Den Moment bewusst erleben, die eigene Unabhängigkeit spüren und Lebensfreude kultivieren.

Während Freuds zwei Säulen eine stabile Basis für psychische Gesundheit und sozialen Zusammenhalt bilden, verleiht der bewusste Genuss unserem Leben eine zusätzliche Dimension: Er stärkt das Gefühl von Autonomie und Identität.

Persönliche Reflexion: Wie steht es um deine „drei Säulen für ein erfülltes Leben“?

Abschließend möchten wir dich als Leser:in einladen, einen Moment innezuhalten und folgende Fragen zu den drei Säulen für ein erfülltes Leben reflektieren:

  • Liebesfähigkeit: Wie präsent ist dein zwischenmenschliches Engagement im Alltag? Fühlst du dich anderen Menschen nahe, oder nimmst du eher Distanz ein?
  • Arbeitsfähigkeit: Findest du in deiner Arbeit Sinn und Erfüllung? Oder erlebst du sie hauptsächlich als Mittel zum Zweck?
  • Genussfähigkeit: Gönnst du dir bewusst Zeiten, in denen du genießt – sei es ein köstliches Essen, ein schöner Spaziergang oder einfach nur ein Moment der Ruhe?

Eine ehrliche Auseinandersetzung mit diesen Fragen kann dir helfen, die eigene Balance zwischen Liebe, Arbeit und Genuss neu auszuloten. In einer Welt voller Möglichkeiten und Anforderungen ist es wertvoll, sich regelmäßig zu vergewissern, dass nicht nur Lieben und Arbeiten, sondern auch Genießen zu einem sinnerfüllten Leben beiträgt. Falls du dabei Unterstützung benötigst, kann unsere nachhaltige Ernährungsberatung und Ernährungstherapie dir helfen.

Zusammenfassung: Die drei Säulen für ein erfülltes Leben

Sigmund Freuds Idee, dass jemand, der lieben und arbeiten kann, weitgehend gesund sei, behält in einer modernen Gesellschaft weiterhin Gültigkeit. Doch insbesondere mit Blick auf Emmanuel Lévinas’ Gedanken zum Genuss und unserer gestiegenen Individualisierung erweitert sich das Bild: Neben der Liebesfähigkeit und der Arbeitsfähigkeit ist auch unsere Fähigkeit zum bewussten Genießen ein wesentlicher Baustein für ein erfülltes, eigenständiges und doch verantwortungsbewusstes Leben. Indem wir die drei Aspekte „lieben, arbeiten und genießen“ ausgewogen in unser Leben integrieren, bleiben wir einerseits in Kontakt mit anderen und der Gesellschaft, wahren aber auch unsere eigene Identität und Autonomie.

So wird klar, dass der Mensch nicht allein über Beziehungen und berufliche Erfüllung gedeiht, sondern auch durch die Fähigkeit, für sich selbst kraftspendende und sinnstiftende Momente zu schaffen. Indem wir lieben, arbeiten und genießen, verbinden wir uns mit anderen und mit der Welt – und bleiben gleichzeitig wir selbst.

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Methodenmix in der Ernährungspsychologie

Methodenmix in der Ernährungspsychologie

Methodenmix in der Ernährungspsychologie: Einleitung

Ein zentraler Bestandteil der Ernährungspsychologie ist der sogenannte Methodenmix, der von dem renommierten Ernährungspsychologen Professor Christoph Klotter eingeführt wurde. Dieser Methodenmix integriert verschiedene psychologische Fachrichtungen und ermöglicht es, äußere sowie innere Einflussfaktoren auf das Essverhalten ganzheitlich zu berücksichtigen. In diesem Blogbeitrag beleuchten wir die vier Hauptkomponenten des Methodenmixes, zeigen ihre praktische Relevanz an alltagsnahen Beispielen auf und diskutieren die Grenzen der Ernährungspsychologie. Darüber hinaus erfahren Sie, wie diese Ansätze nicht nur in der individuellen Beratung, sondern auch in Gesundheitsförderung, Ernährungskommunikation, Ernährungsbildung und Ernährungserziehung sinnvoll eingesetzt werden können.

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Gesundheitsförderung in Lebenswelten… und warum das wichtig ist

Gesundheitsförderung in Lebenswelten – Einleitung

Wir freuen uns, den Ernährungsrat Hannover als als neuen Kooperationspartner der Initiative „Gemeinsam gesünder gestalten“ begrüßen zu dürfen.

‚Gesundheitsförderung in Lebenswelten‘ ist eine sperrige Bezeichnung. Nicht nur, dass sie lang ist. Sie klingt auch nach etwas, das in das Leben von Menschen eingreift. Und das durchaus nicht immer mit deren ausdrücklichem Einverständnis. Daher gibt es durchaus gute Gründe, Gesundheitsförderung in Lebenswelten ablehnend gegenüber zu stehen. Die schlüssige Begründung: Sie stellt einen Eingriff in die Autonomie des Individuums dar. So weit, so fair. Doch das Thema lässt sich auch aus einer anderen Perspektive betrachten: Gesundheit ist eine Sache des sozioökonomischen Status (wieder so ein sperriges Wort). Einfacher ausgedrückt:

Arme und weniger gebildete Menschen leben kürzer und ungesünder als reiche und gebildete.

Gesundheitsförderung in Lebenswelten

Aber halt! Bevor wir das Brennglas auf das kritische Thema dieses Blogbeitrags richten, möchte ich kurz definieren, was ‚Gesundheitsförderung in Lebenswelten‘ ist. Das RKI leitet in einer Übersicht das Thema Gesundheitsförderung folgendermaßen ein: „Gesundheitsförderung soll Menschen ein höheres Maß an Selbstbestimmung über ihre Gesundheit ermöglichen und sie befähigen, ihre Gesundheit zu stärken. Dabei setzen Maßnahmen der Gesundheitsförderung am besten auf verschiedenen Ebenen an…“ Im Leitfaden Prävention des Spitzenverbandes der gesetzlichen Krankenkassen (GKV-Spitzenverband) steht die Definition „Lebenswelten […] sind für die Gesundheit bedeutsame, abgrenzbare soziale Systeme insbesondere des Wohnens, des Lernens, des Studierens, der medizinischen und pflegerischen Versorgung sowie der Freizeitgestaltung einschließlich des Sports…

Gesundheitsförderung in Lebenswelten als Chance

Zurück zu den sozioökonomischen Unterschiede. Diese herrschen natürlich auch und gerade in Lebenswelten vor (im Golfklub gibt es vermutlich ein höheres durchschnittliches Einkommen und Vermögen als im Studentenwohnheim oder gar in der Flüchtlingsunterkunft). Daher bietet Gesundheitsförderung in Lebenswelten eine große Chance, um Chancengleichheit herzustellen. Bei geeigneter Wahl des Standorts, guter Zusammenarbeit der unterschiedlichen beteiligten Institutionen und Individuen (sogenannte Stakeholder) und passenden Methoden kann eine Veränderung der Verhältnisse erreicht werden. Das gewohnte Umfeld der Zielgruppe kann partizipativ (d.h. demokratisch, gleichberechtigt beteiligt und kooperativ) in eine gesundheitsförderlichere Richtung umgestaltet werden (Verhältnisprävention. Außerdem werden die Individuen innerhalb der Lebenswelt gestärkt (Verhaltensprävention).

Gesundheitsförderung in Lebenswelten als Gegengewicht

Gesundheitsförderung in Lebenswelten ist eine Aufgabe der gesetzlichen Krankenkassen, die nach dem Leitfaden Prävention zusammenarbeiten sollen. Letztendlich handelt es sich beim Thema Gesundheitsförderung in Lebenswelten um eine politische Aufgabe. Die Verantwortungsbereiche von guter Politik sind komplex, übergreifend (sowohl fachdisziplinär als auch institutionell) und streitbar. In jedem Falle gehört dazu, für eine gewisse Gerechtigkeit zu sorgen. Da dieser Begriff für verschiedene Menschen unterschiedliche Bedeutungen besitzt, halte ich es für wichtig, zu definieren, was ich meine, wenn ich von von Gerechtigkeit spreche.

Für mich bedeutet Gerechtigkeit nicht absolute Gleichheit, sondern gleiche Chancen. Doch daraus ergibt sich eine zweite Frage: Gleiche Chancen worauf?

Was ist Gerechtigkeit?

Über Gerechtigkeit lässt sich gut streiten. Insbesondere wenn es um den Besitz von materiellen Gütern geht. Es lässt sich allerdings schwierig von der Hand weisen, dass es in höchstem Maße ungerecht ist, wenn die Lebenserwartung von dem Ort, und dem Einkommen sowie dem Bildungsstand der Familie abhängt, in die man hineingeboren wird. Oft wird Ungleichheit über unterschiedliche Leistungen erklärt und gerechtfertigt. Materielles wird normalerweise vererbt und dies gilt weithin als legitim. Aber niemand kann guten Gewissens ethisch begründen, dass er*sie mehr Zeit auf diesem Planeten verdient hat, als jemand anderes, weil er*sie gezeugt worden ist.

Das Gesundheitspraradox der Leistungsgesellschaft

Ein weiteres Problem von Leistungsgesellschaften, in denen sich die Menschen über den Besitz von materiellen Gütern definieren, ist der Vergleich mit dem Haus/Auto/Boot des Nachbarn. Das ist schon belastend genug. Wenn nun der Vergleich über gesundheitliche Faktoren, körperliche Leistungsfähigkeit und Lebenserwartung hinzukommt, kommt es zu einem Paradox. Denn verzweifelt danach zu streben, noch gesünder zu werden, hat nichts mehr mit Gesundheit zu tun. Stattdessen führt dieses Streben zu höchst problematischen psychischen und körperlichen Symptomen. Die Entstehung von neuen Essstörungen, wie die Orthorexia nervosa (krankhafter Drang sich gesund zu ernähren) ist aus dieser Perspektive wahrscheinlich nur die Spitze des Eisbergs.

Gesundheitsförderung neu denken

Herkömmlich wird ‚Gesundheit‘ als Abwesenheit von Krankheit definiert und die Förderung derselben bleibt dem Individuum überlassen. Dabei geht es dann um eine Reihe von regelmäßig ausgeführten Handlungen, die von Sport, über Ernährung bis zu Entspannungsmethoden (z.B. Meditation oder Progressive Muskelentspannung (PMR)) reichen. Mittlerweile kommen noch Regenerationsmethoden wie Sauna, Eisbäder und alle möglichen Trackingmethoden hinzu. Alles schön und gut, aber um ehrlich zu sein, führen diese angeblichen Lösungswege am eigentlich Ziel vorbei.

Das kranke, gesunde Individuum…

Warum führen diese angeblichen Lösungswege am Ziel vorbei? Aus mindestens drei Gründen. Erstens, weil es die Spaltung im sozioökonomischen Status und der damit verbundenen Gesundheit sowie Lebenserwartung noch weiter verstärkt. Je komplexer und damit sowohl zeit- als auch kostenintensiver die Methoden der Gesundheitsförderung werden, desto weniger können arme Menschen sie sich leisten. Mit den fortschreitenden Entwicklungen in der Biotechnologie könnte sich diese gesellschaftliche Spaltung in ungeahnte Höhen (bzw. Tiefen) ausweiten. Zweitens, weil es einen immensen Druck auf alle Individuen ausübt und zwar auch auf sozioökonomisch gut situierte Menschen. Drittens, weil eine gesellschaftliche Spaltung in Kombination mit von Leistungsdruck gestresste Menschen die Wahrscheinlichkeit von schwerwiegenden Konflikten bis hin zu Kriegen erhöht.

Und nichts ist abträglicher für die Lebenserwartung als Krieg!

Essstörungen als Warnsignal

Christoph Klotter macht in seinem Essay „Identitätsbildung über Essen – Ein Essay über „normale“ und alternative Esser“ deutlich, dass Essstörungen nicht nur eine Abweichung von der Norm bedeuten. Insbesondere die Anorexia nervosa überspitzt die gesellschaftlichen Ideale von Schlankheit und Selbstdisziplin. Mit anderen Worten: Essstörungen sind die „positive“ Kehrseite der Medaille, die durch die Stigmatisierung von Übergewicht und Adipositas geprägt wurde. Dabei symbolisieren sie mindestens einen genauso stark gestörten Bezug zur Welt und zum Selbst, wie zu viel Gewicht mit sich herumzuschleppen. Gleichzeitig erhalten viele Essgestörte, insbesondere magersüchtige Mädchen und Frauen viel Anerkennung für ihre ungesunden Verhaltensweisen.

Essgestörtes Verhalten wird allzu oft zelebriert, gerade, aber nicht nur in den sozialen Medien.

Gesundheitsförderung in Lebenswelten als gemeinschaftliche Aufgabe

In den sozialen Medien sind wir alleine. Sie geben zwar das oberflächliche Gefühl von Verbindung und Miteinander, sind aber das genaue Gegenteil. Während Jugendliche nebeneinander sitzend durch Instagram, TikTok und Co. scrollen, sind sie in der Gruppe isoliert. Wenn Gesundheitsförderung den Fokus auf die Stärkung des Miteinanders und weniger auf angeblich gesundheitsförderliche Gewohnheiten von Individuen legen würde, könnten wir diese gesellschaftliche Aufgabe gemeinsam angehen. Gesundheitsförderung in Lebenswelten ist dann in erster Linie das Stärken von zwischenmenschlichen Beziehungen. Beim gemeinsamen Kochen als Beispiel, hätte die Auswahl  ‚gesunder‘ Lebensmittel zwar einen Platz, doch der Fokus läge auf dem gleichberechtigten, kooperativen Miteinander.

Kulturwandel

Wenn wir es schaffen, Lebenswelten partizipativ so zu verändern, dass ein Kulturwandel stattfindet, bei dem der Fokus auf ein gesundheitsförderliches Miteinander gelegt wird, werden die Folgen weit über gesündere Individuen hinausgehen. Statt den Konkurrenzkampf von materiellen Besitztümern immer stärker auf Gesundheit, Lebenserwartung und (körperliche) Leistungsfähigkeit zu verlagern, können wir auf diese Weise Kooperation und Miteinander stärker in den Mittelpunkt der Debatte rücken. Gesundheitsförderung in Lebenswelten könnte die Chancen auf ein langes, gesundes Leben demokratisieren und für alle Menschen erreichbar machen. Das wäre ein großer Schritt in Richtung einer gerechteren Gesellschaft.

Gesundheitsförderung in Lebenswelten – nur der Anfang

Ich habe in der Praxis mit hunderten Menschen in unterschiedlichen Lebenswelten zusammengearbeitet. Dabei hat die Erfahrung mich gelehrt, dass die Gesundheitsförderung in Lebenswelten ein hohes Potenzial hat. Gleichzeitig werden die mit Maßnahmen der Gesundheitsförderung bespielten Lebenswelten oftmals lediglich zu Oasen in einem Sozialraum. Gerade in Sozialräumen, in denen ein hoher Anteil Menschen mit niedrigem sozioökonomischen Status vertreten ist oder die Ungleichheit sehr hoch ist, ist Gesundheitsförderung in Lebenswelten oftmals nur ein Tropfen auf dem heißen Stein, sodass die Oase schnell wieder ‚verwüstet‘ wird.

Beispielsweise wird der neue Spielplatz dann oftmals schnell der Treffpunkt für rebellierende Jugendliche, die dort trinken und rauchen.

Sozialräume verstehen

Ein Sozialraum ist ein Ort, der schwer von außen abzugrenzen ist. Er bezeichnet die unsichtbaren Grenzen, in denen sich Menschen bewegen. Ein Sozialraum kann beispielsweise ein Wohnquartier, eine Schule, ein Jugendzentrum, einen Bolzplatz und einige lokale Geschäfte umfassen, in denen regelmäßig eingekauft wird. Um Gesundheitsförderung in Lebenswelten nachhaltig zu verwirklichen, ist es nach meiner Überzeugung notwendig, die innere Logik des Sozialraums zu verstehen, in dem diese Lebenswelten angesiedelt sind. Dabei ist eine Standortanalyse der physischen Orte nur der erste Schritt. Als nächstes muss man verstehen, welche ungeschriebenen Regeln, Gesetze und Normen im Sozialraum gelten.

Was wünschen sich die Menschen? Wovon träumen sie? Welche Menschen haben das Sagen? Vor wem und was haben die Menschen Angst?  Im dritten Schritt halte ich es für sinnvoll, möglichst viele, wenn nicht alle Lebenswelten in einem Sozialraum gleichzeitig zu bespielen.

Projektbasierte Gesundheitsförderung

In meinen Augen ist es notwendig, Gesundheitsförderung in Lebenswelten bzw. in Sozialräumen in Projekten von mindestens 2 – 3 Jahren Dauer zu verwirklichen. Veränderungen benötigen neurologisch gesehen diese Zeiträume sowie verlässliche Begleitung, um nachhaltig zu wirken. Solche Projekte sollten eine Evaluation der Ergebnisse und Erkenntnisse einschließen (am besten mit einer Kombination an interner und externer Evaluation). Anschließend können diese Ergebnisse genutzt werden, um für eine Ausweitung des Wirkradius zu sorgen. Damit meine ich, dass Sozialräume sich stets überlappen und sich kostengünstiger bespielen lassen, wenn man vom bereits bespielten Sozialraum lernt und von dort aus die Herausforderungen und Chancen benachbarter Sozialräume angeht.

Das zentrale Problem der Gesundheitsförderung in Lebenswelten

Das zentrale Problem bei der Gesundheitsförderung in Lebenswelten besteht darin, dass es eine teure Angelegenheit ist. Ein Projekt zu fördern, dass nicht nur einzelne Lebenswelten für kurze Zeit, sondern ganze Sozialräume analysiert und bespielt, kostet sechs- bis siebenstellige Beträge. Da ist es verführerisch, stattdessen nur kleine Projekte für kurze Zeit zu fördern. Dort fehlen meist auch angemessenes Monitoring und ausreichende Evaluation. Diese Mini- oder Mikroprojekte bringen dann natürlich keine nachhaltigen Veränderungen mit sich, was wiederum ein hervorragender Grund ist, um zu begründen, warum man keine größeren Projekte finanziert.

So beißt sich die Katze in den Schwanz.

Der Teufelskreis der Gesundheitsförderung

Diese kurzfristigen und -sichtigen Betrachtungen der Gesundheitsförderung in Lebenswelten verstärkt indirekt wieder die gesamtgesellschaftliche Spaltung zwischen arm und reich. Die Lebenswelt Schule in einem reichen Sozialraum wird dann beispielsweise von Eltern privat unterstützt (zeitlich und/oder finanziell). Das führt wiederum zu gesünderem Essen, besserer Versorgung und dadurch zu einer besseren körperlichen und kognitiven Entwicklung. Diese Prozesse haben wiederum eine Spaltung im Einkommen im späteren Leben zur Folge, wobei das Problem natürlich lange Zeit vor der Einschulung beginnt (Vgl. die Arbeiten von Martin Rücker).

Fazit und Lösungsskizze

Viele Lösungsansätze sind bereits in der Theorie entwickelt worden und das meiste, was ich in diesem Blogbeitrag thematisiert habe, ist wissenschaftlicher Konsens. Ein grundsätzliches Problem bei der Umsetzung ist in meinen Augen, dass mögliche Lösungsansätze meist zu akademisiert und dezentralisiert sind. Damit sich wirklich etwas bewegen kann, benötigt es neben der finanziellen Ausstattung kurze Informationswege und eine zentrale Person, bei der die Fäden zusammenlaufen. Wenn diese zentrale Person sowohl für die verantwortlichen Stakeholder innerhalb der Lebenswelten, die beteiligten Gesundheitsfachkräfte, die Geldgeber sowie die Politik/Verwaltung ansprechbar ist, können Probleme schnell gelöst und Chancen wahrgenommen werden.

Gesundheitsförderung im Sozialraum

Die Landesvereinigung für Gesundheit und Akademie für Sozialmedizin Niedersachsen Bremen e. V. (LVG & AFS) setzt mit der Idee der sogenannten Präventionsketten einiges um, was auch im Ansatz der Gesundheitsförderung im Sozialraum steckt. Allerdings liegt der Fokus dieser Idee stärker auf den unterschiedlichen Altersstufen, als auf den physischen und psychischen Räumen. Ich halte es aus den oben genannten Gründen für sinnvoller, die Sozialräume im Sinne eines lebensweltübergreifenden Konzepts zu bespielen.

Gemeinsam gesünder gestalten

Als ich eben nach längerer Zeit wieder auf der Website der LVG & AFS war, habe ich gesehen, dass deren Website aktualisiert wurde. Der neue Slogan „Gemeinsam Gesund Gestalten“ erinnert stark, an die von mir 2021 ins Leben gerufene Initiative „Gemeinsam gesünder gestalten„. Diese Initiative knüpft an der Ottawa-Charta zur Gesundheitsförderung von 1986 an und geht von der Prämisse aus, dass „Gesundheit von Menschen in ihrer alltäglichen Umwelt geschaffen und gelebt wird…“. Dieses Projekt wächst mit der Zeit und dem Engagement der Kooperationspartner*innen. Wir arbeiten gemeinsam daran, Gesundheit demokratisiert, gerecht und gemeinschaftlich zu fördern und warten darauf, dass die Politik die nötigen Ressourcen zur Umsetzung zur Verfügung stellt.

Quellen

  • Klotter, C.: „Identitätsbildung über Essen – Ein Essay über „normale“ und alternative Esser“, 2016
  • https://www.bpb.de/themen/politisches-system/abdelkratie/312973/gleichheit-und-gerechtigkeit/
  • https://www.rki.de/DE/Content/GesundAZ/G/Gesundheitsfoerderung/Gesundheitsfoerderung_node.html
  • https://www.gkv-spitzenverband.de/media/dokumente/krankenversicherung_1/praevention__selbsthilfe__beratung/praevention/praevention_leitfaden/2023-12_Leitfaden_Pravention_barrierefrei.pdf
  • https://www.phineo.org/kursbuch-wirkung
  • https://difis.org/blog/?blog=20
  • https://www.praeventionsketten-nds.de/fileadmin/media/downloads/praxis-praeventionskette/Praxisblatt_1_Koordination_web.pdf
  • https://verumvita.de/gemeinsam-gesuender-gestalten/
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Anti-Diätkultur – Artikelsammlung

Die regelmäßigen Leser*innen meines Blogs wissen bereits, dass die Diätkultur mir ein Dorn im Auge ist. Und zwar ein gewaltiger. Denn diese Kultur fördert einen ungesunden Schlankheitswahn. Auch und nicht zuletzt in den sozialen Medien. Gestörtes Essverhalten und eine negative Einstellung dem eigenen Körper gegenüber sind damit zusammenhängende Folgen und Warnzeichen für die Entstehung manifester Essstörungen. Darüberhinaus ist die Kehrseite des Schlankheitsideals die Diskriminierung und Stigmatisierung mehrgewichtiger Menschen. Die immer stärker aufkeimende Anti-Diätkultur kann Aufklärungsarbeit leisten und Menschen bestärken. Hier habe ich eine Sammlung an Artikeln zusammengestellt, die zeigen, dass die Diätkultur, wissenschaftlich betrachtet, keine Daseinsberechtigung hat. Weiterlesen