Sein Leben nähren

Sein Leben nähren

Sein Leben nähren

Was heißt es eigentlich sich zu ernähren? Im gesellschaftlichen Diskurs ist Ernährung in vielen Kreisen ein absolutes Trendthema. Egal, wo man hinschaut oder zuhört, ob digital oder analog, überall wird über die „richtige“ Art und Weise sich zu ernähren gesprochen. Dabei wird das Wort „richtig“ auf verschiedene Arten und Weisen verwendet und dient dann dem Erreichen von Zielen. Es geht dann um Nachhaltigkeit, Gesundheit und Schlankheit. Ernährung wird dadurch künstlich mit Bedeutung aufgeladen. Aber was bedeutet es eigentlich ursprünglich, sein Leben zu nähren?

Ernährung und Ziele

Geht es bei der Begrifflichkeit „sein Leben nähren“ um das Erreichen von abstrakten Zielen? Oder werden Nahrungsmittel bzw. Lebensmittel durch diese Instrumentalisierung entfremdet? Unsere Vorfahren waren bis vor ca. 10000 Jahren fast ausschließlich Jäger und Sammler. Nach der Sesshaftwerdung haben die Menschen es geschafft die natürlichen Prozesse immer besser zu verstehen und Technologie für sich nutzbar zu machen. Dieser Prozess verläuft heute rasend schnell. Im Mittelalter waren dagegen noch ca. 90 % aller Menschen Bauern.

Vor 70 Jahren konnte die Arbeit eines Landwirts in Deutschland bereits 10 Menschen ernähren. 2018 ernährte ein Landwirt in Deutschland 134 Menschen.

Wohlstand und Zeit

Wenn weniger Menschen für die Ernährungsversorgung zuständig sind, hat das verschiedene, tiefgreifende und vielfältige Folgen. Voraussetzung für alle darauf aufbauenden Veränderungen ist das Freiwerden von Zeit, die für andere Aktivitäten genutzt werden kann. Zum Beispiel dafür, sich darüber Gedanken zu machen, wer man eigentlich ist und sein möchte. Es entstehen neue Möglichkeiten zu arbeiten und seine Freizeit zu nutzen. Solange 90 % der Bevölkerung Bauern waren und der Rest sich in Soldaten und einige wenige Adlige aufteilte, war die „individuelle“ Identität relativ klar. Du warst Teil einer von Geburt an festgelegten Kaste.

Individualisierung durch Wohlstand

Somit ist unsere verbesserte Ernährungsversorgung die Grundlage von Wohlstand und individuellen Identitäten, wie wir es heute für normal halten. Auf der anderen Seite verändert sich durch die verbesserte Ernährung auch der Bezug zu den natürlichen Prozessen, die das moderne Leben wie wir es kennen überhaupt erst ermöglichen. Einem mittelalterlichen Bauern war es vermutlich implizit klar, was nachhaltiges Wirtschaften bedeutet. Gesundheit war notwendig, um der körperlich anstrengenden Arbeit nachzugehen und das Leben war kurz. Gewichtsprobleme waren Probleme mit Dürren und Plagen.

Wenn damals jemand eine gewisse Leibesfülle aufwies, dann waren es die Adligen.

Sinn und Identität

Aber eigentlich geht es beim (Er)nähren doch um etwas sehr Rudimentäres. Sich zu nähren, ist die Grundlage des biologischen Lebens selbst. Egal ob Fadenwurm, Gartenbohne, Meerschweinchen oder Mensch – wir alle müssen uns nähren, um leben zu können. Doch für uns moderne Menschen ist (Er)nährung weitaus komplexer als für weniger komplexe Lebensformen. Laut dem Ernährungspsychologen Dr. Klotter stiftet uns Ernährung heutzutage bei weitem nicht mehr nur Energie und Vitamine sondern auch Identität.

Francois Jullien – Sein Leben nähren

Inspiriert wurde ich zum heutigen Blogbeitrag durch den französischen Philosophen Francois Jullien. Dieser ist Chinaforscher (Sinologe) und hat selbst lange in China gelebt. Er ist mit der europäischen und fernöstlichen Art zu sprechen und zu denken vertraut. Dadurch ist Jullien sehr geschickt darin, die Unterschiede zwischen westlichem und östlichem Denken philosophisch zu durchdringen. In seinem Essay „Sein Leben nähren – Abseits vom Glück“ arbeitet Jullien einige Unterschiede zwischen der chinesischen und europäischen Weltanschauung heraus.

Sein Leben nähren – künstliche Trennung

Eine Besonderheit am chinesischen Denken ist, dass es ohne die künstliche Trennung von Körper und Seele/Psyche auskommt. Diese Trennung ist in West- und Mitteleuropa durch die philosophischen Ansichten Platons und Pythagoras implizit präsent. Sie spiegelt sich in unserer Sprache, unserem Zugang zur Welt, der christlichen Religion und nahezu unserer gesamten abendländischen Philosophie wider. Ob es uns bewusst ist oder nicht, unsere sprachliche, gesellschaftliche und kulturelle Grundhaltung impliziert die Trennung von Körper und Geist.

Seelenwanderung

Angesichts der Erkenntnisse von Evolutionsbiologie und Co. ist es jedoch sinnvoll, sich darüber Gedanken zu machen, ob diese Trennung tatsächlich sinnvoll ist. Denn an die Trennung von Körper und Psyche zu glauben hat zur Folge, dass wir implizit auch an eine Seelenwanderung und somit ein Leben nach dem Tod glauben müssen. Zumindest, wenn wir den zugrunde liegenden Gedankengang zu Ende führen. Die Logik, dass der Körper asketisch behandelt werden müsse, damit die Seele genährt werde, ist bei näherem Hinsehen nicht wirklich bestechend.

Wenn Körper und Seele/Psyche in einem gemeinsamen evolutionären Prozess entstanden sind, dann ist es völlig unlogisch, von einer Trennung der beiden auszugehen.

Sein Leben nähren – Organismische Einheit

Gehen wir davon aus, dass Körper und Seele/Psyche eine Einheit bilden, müssten wir damit beginnen über andere Begrifflichkeit nachdenken. Organismus wäre eine mögliche Alternativbezeichnung, die psychische und physische Prozesse wieder zu einem Ganzen verschmelzen könnte. Daraus folgend müssten wir unsere gesellschaftliche und kulturelle Grundhaltung überdenken. Wir müssten unsere Grundwerte in Frage stellen. Warum sollten wir zum Beispiel auf typisch konservative Werte wie Pünktlichkeit, Tüchtigkeit und Ordnung so viel geben?

Einfache Denkstrukturen

Diese gesellschaftlichen und kulturellen Grundstrukturen infrage zu stellen, brächte uns in eine unangenehme Situation, weil wir unsere einfachen und gewohnten Denkstrukturen aufgeben müssten. Pünktlichkeit, Tüchtigkeit und Ordnung wären nicht mehr per se gut, sondern situativ zu bewerten. Dadurch wären wir gezwungen uns stärker zu reflektieren, abzuwägen und je nach Situation zwischen richtig und falsch zu entscheiden. Es würde die Einfachheit nehmen, die wir genießen, wenn unser Alltag klare Strukturen aufweist- sowohl im Denken als auch im Handeln.

Sein Leben nähren heißt Befreiung

Auf der anderen Seite wäre es jedoch auch befreiend diese Grundstrukturen infrage zu stellen. Denn dann gäbe es keine Verpflichtung mehr dazu, sich blind in seine Arbeit zu stürzen. Wir dürften darüber nachdenken, wie sinnvoll es ist, diese oder jene Aufgabe zu erledigen. Dadurch könnten wir sowohl darüber nachdenken, was wir im Hier und Jetzt wollen, was wir genießen und was wir verabscheuen. Aber auch, was wir langfristig von unserem Leben auf diesem Planeten möchten und wo die Grenzen unseres Willens liegt.

Wir dürften das gute Leben in unserer irdischen Welt suchen und müssten nicht mehr auf ein Leben (nach dem Tod) warten, in dem plötzlich alles anders und besser wird.

Sein Leben nähren und Moral

Sein Leben zu nähren, ohne etwas aufopfern zu müssen, um nach dem Tode ins ewige Leben entschweben zu können, führt zu interessanten Implikationen. Sie gibt uns Menschen die Möglichkeit besser für uns selbst zu sorgen, weil wir lernen können, was unsere diesseitigen Bedürfnisse umfasst. Wenn wir bei jedem Bedürfnis, jeder Handlung, ja vielleicht sogar bei jedem Gedanken und Gefühl daran denken, wie dies aus einer kosmisch-moralischen Sicht bewertet würde, verlieren wir den Kontakt zu uns selbst.

Von impliziten Zwängen befreien

Wenn wir es schaffen würden, und ich glaube keineswegs das dies leicht ist, uns von den unbewussten Zwängen der antiken Griechen und des christlichen Glaubens zu befreien, würde sich unser Bezug zur Welt radikal verändern. Welche Folgen es genau hätte, kann ich nicht abschließend beurteilen, da ich ja ebenfalls Teil der westlichen Kultur bin. Außerdem habe ich leider keine hellseherischen Fähigkeiten. Aber ich vermute, dass wir uns besser entspannen könnten. Es würde wahrscheinlich viel Druck und Stress von unseren Schultern nehmen und uns wieder näher an unsere intuitiven Bedürfnisse sowie an den gegenwärtigen Moment heranführen.

Egoismus und Gesellschaft

Nun könnte man einwenden, dass eine Reduktion auf die diesseitige Welt uns egoistischer machen könnte. Ich gehe hingegen davon aus, dass das Gegenteil der Fall sein würde, zumindest langfristig betrachtet. Wir Menschen sind seit Jahrmillionen Teil von sozial organisierten Gruppen. Wir benötigen den intensiven Kontakt zu anderen Lebewesen um ein gutes Leben führen zu können. Der Glaube daran, dass wir immerfort tüchtig arbeiten müssten und den heutigen gesellschaftlichen Regeln folgen müssten, um ein besseres Leben im Jenseits zu haben, hält uns davon ab, unser tiefes Bedürfnis nach Miteinander zu spüren und ihm Bedeutung beizumessen.

Tüchtig arbeiten

Tüchtig zu arbeiten, der Wunsch wirtschaftlich erfolgreich zu sein, ist Teil der protestantischen Arbeitsmoral. Diese hat sicherlich dabei geholfen das Wirtschaftswunder nach dem zweiten Weltkrieg zu realisieren. Aber heute ist diese Arbeitsmoral eher hinderlich. Statt wie wild zu arbeiten und uns zu überanstrengen, benötigen wir viel eher die Möglichkeit für uns und unsere inneren Bedürfnisse zu sorgen, ohne ein ständiges „Mehr“ generieren zu müssen. Die Steigerung von Tüchtigkeit und die Entschädigung für unseren übermäßigen Aufwand durch übermäßigen Konsum wird weder unsere individuellen noch unsere globalen Probleme lösen.

Beweglichkeit bewahren

Sein Leben nähren hingegen, stellt eine philosophische Ausrichtung dar, die sich an den tatsächlichen globalen und individuellen Entwicklungen orientieren könnte. Sein Leben zu nähren macht flexibel und beweglich. Diese chinesischen Philosophie ist mit dem westlich geprägten Individualismus, einem individuellen Lebensweg (Tao) sowie der Metapher des „im Strom des Lebens schwimmen“ vereinbar.

Individualität ist nur in einem kollektiven biologischen, kulturellen und gesellschaftlichen Kontext möglich und denkbar.

Sein Leben nähren – Zugang zu sich selbst

Im chinesischen Denken geht die Idee des Nährens weit über Ernährungsempfehlungen hinaus. „Sein Leben nähren“ lässt Individualität deutlich besser zu, als normative Zwänge bezüglich Lebensmitteln, Gesundheit, Schlankheit etc. Wir können dann danach fragen, was wir benötigen. Dabei geht es um die individuellen Bedürfnisse nach Lebensmitteln, Bewegung, Ruhe, Anregung, sozialem Kontakt und allem anderen, das für einen Menschen zum guten Leben dazugehört. Letztendlich stellt das Konzept „Sein Leben nähren“ in jedem Moment eine einfache, in sich geschlossene Frage:

Was sollte ich tun oder lassen, um mein Leben zu nähren, um es reich, voll und nach meinem subjektiven Maßstab „gut“ zu gestalten?

Sein Leben nähren und Ernährungsberatung

Wenn wir die Trennung zwischen Körper und Psyche aufheben würden, könnten wir auch die künstlich herbeigeführte Trennung zwischen Ernährung, Psychologie und Philosophie (Die Liebe zur Weisheit) nicht mehr aufrecht erhalten. Ernährungsberatung und Ernährungstherapie wären dann ebenso wie Psychotherapie ein Teil des lebenslangen Versuchs, sein Leben zu nähren. Anders ausgedrückt:

Da die Trennung zwischen Körper und Psyche künstlich ist, ist es auch die Trennung der Heilverfahren derselben.