Ernährungsempfehlungen – 6 Schritte
Ernährungsempfehlungen in 6 Schritten
Im folgenden werde ich mich der Frage widmen, wie eigentlich Ernährungsempfehlungen entstehen.
Die Antwort auf die gestellte Frage scheint intuitiv auf der Hand zu liegen. Ernährungsempfehlungen, wie die 10 Regeln der DGE oder die Ernährungspyramide der USDA sind durch objektive Wissenschaft entstanden und rein rationaler Natur, oder? Den Weg von der Ernährungswissenschaft zu offiziellen, normativen Ernährungsempfehlungen werden wir im heutigen Blogbeitrag in sechs Schritten nachvollziehen. Anschließend nehmen wir eine kritische ernährungspsychologische und -philosophische Perspektive ein. Viel Spaß beim Lesen und danke für deine Aufmerksamkeit.
Ernährungsempfehlungen ≠ Ernährungswissenschaft (Schritt 1-3)
Der erste Schritt beginnt bei einer ernährungswissenschaftlichen Betrachtung von Nährstoffen und deren Klassifikation. Es gibt drei energieliefernde Nährstoffe in der menschlichen Ernährung. Kohlenhydrate, Fette, Proteine. Darüber hinaus gibt es Mikronährstoffe. Also, (fett- und wasserlösliche) Vitamine sowie Mineralstoffe (Mengen- und Spurenelemente). Diese fünf Nährstoffgruppen werden als essenzielle Nährstoffe klassifiziert. Außerdem gibt es in der ernährungswissenschaftlichen Klassifikation noch sogenannte bioaktive Substanzen. Zu letzteren zählen Ballaststoffe (die als unverdauliche Kohlenhydrate mit 2 Kilokalorien durchschnittlich berechnet werden), Substanzen aus fermentierten Lebensmitteln und sekundäre Pflanzenstoffe (Vgl. ELMADFA, I./ LEITZMANN, C., 1988/2019).
Physikalische und chemische Eigenschaften
Beim Verbrennen der energieliefernden Nährstoffen im Kalorimeter lässt sich feststellen, dass diese Art der Nährstoffe eine bestimmte, konstant bleibende Menge Energie pro Mengeneinheit freisetzen. Je vier Kilokalorien pro Gramm Kohlenhydrate und Proteine sowie neun Kilokalorien pro Gramm Fett. Bei den Mikronährstoffen und bioaktiven Substanzen lassen sich zwar keine Energiegehalte (außer bei den Ballaststoffen), aber dafür andere chemische und physikalische Eigenschaften nachweisen und beschreiben. Zum Beispiel Hitzebeständigkeit, Lichtempfindlichkeit, molekulare Struktur u.ä. (Vgl. ELMADFA, I./ LEITZMANN, C., 1988/2019).
Ernährungsempfehlungen: In vitro vs. In vivo
Aus rein experimenteller Sicht erfordert die Ernährungswissenschaft hohe Rationalität. Sogenannte in-vitro-Experimente (im Labor) werden als Grundlagen in ernährungswissenschaftlichen Studiengängen gelehrt. Die Durchführung dieser Versuche erfordern in der Praxis ein hohes Maß an Objektivität, Reliabilität und Validität. Also Wissenschaftlichkeit. In-vitro-Experimente geben jedoch nur bedingt Aufschluss über das, was tatsächlich im menschlichen Körper geschieht. Der zweite noch Schritt von der Ernährungswissenschaft zu den Ernährungsempfehlungen besteht daher in der Erforschung der in-vivo-Ergebnisse. Die Forschungsfragen drehen sich nun darum:
Was passiert, wenn Nährstoffe mit dem menschlichen Organismus interagieren?
Der menschliche Stoffwechsel
Ein relativ bekanntes Beispiel für ein unfreiwilliges in-vivo-Experiment ist die Mangelerkrankung Skorbut (pathologischer Vitamin-C-Mangel), unter dem viele Seefahrer zu Zeiten von Kolumbus litten. Ausreichend Vitamin-C und andere lebenswichtige Nährstoffe zu sich zu nehmen, war auf Schifffahrten lange Zeit unmöglich. Zudem fehlte das Wissen über den Zusammenhang von Mikronährstoffzufuhr und Erkrankungen. Bis zum heutigen Tag hat die Ernährungswissenschaft deutliche Fortschritte gemacht. Eine abwechslungsreiche, pflanzenbasierte und naturbelassene Ernährung ist für so viele Menschen verfügbar wie noch nie in der Geschichte der Menschheit.
Ernährungsempfehlungen und Epidemiologie
Im dritten Schritt auf dem Weg von den Ernährungswissenschaften zu den Ernährungsempfehlungen, gelangen wir zur Epidemiologie. In dieser wissenschaftlichen Disziplin wird sich mit dem Neuauftreten und der Verbreitung sowie den Ursachen und Folgen von gesundheitsbezogenen Zuständen und Ereignissen in Bevölkerungen oder Populationen beschäftigt (Vgl.: UKE, (2020). Epidemiolog*innen können z.B. erforschen, wie hoch die durchschnittliche Aufnahme an Vitamin-C, wie oft Vitamin-C-Mangel dokumentiert wird oder auch, wie hoch der durchschnittliche Body-Mass-Index in einer Population ist.
Die Krux mit den Ernährungsempfehlungen (Schritt 4-6)
Eine entscheidende Herausforderung hierbei ist, dass die Einordnung von epidemiologischen Daten optimalerweise zu Handlungsempfehlungen führen sollte. So kann ein erniedrigter Vitamin-C-Spiegel im Normalfall mit dem regelmäßigen Verzehr von Zitrusfrüchten behoben werden. Bei den meisten Nährstoffen muss sich der durchschnittliche Mensch in einer Wohlstandsgesellschaft keine Sorgen um eine ausreichende Versorgung machen. Eine Überversorgung ist bei Mikronährstoffen ebenfalls selten. Das ist schön und ein kaum zu überschätzender Fortschritt, aber an diesem Punkt beginnt die rationale Begründbarkeit vieler Ernährungsempfehlungen zu wackeln.
Denn woher sollten die Epidemiolog*innen wissen, wieviel Vitamin-C exakt von jedem individuellen Körper aufgenommen und benötigt wird?
Ernährungsempfehlungen & Parameter
Insbesondere wenn Parameter wie Geschlecht, Alter, Körpergröße, Körpergewicht, Körperfettanteil, körperliche Aktivität, Krankheiten, Medikamenteneinnahme etc. pp. berücksichtigt werden sollen, ist eine adäquate Empfehlung, die für alle Menschen passt eher ein feuchter Wunschtraum von Ernährungsberater*innen als reale Möglichkeit. Mathematische Berechnungen benötigen verlässliche Daten und diese sind im Bezug auf Ernährungsempfehlungen nicht ausreichend gegeben. Denn die verschiedenen Einflussfaktoren können in unterschiedlichsten Konstellationen miteinander kombiniert vorliegen und so zu einer extremen Vielfalt an individuellen Bedarfen führen. Zudem verändern sich viele Parameter im Laufe der Lebensspanne.
Sicherheitszuschläge
Im fünften Schritt sehen wir, dass die Entstehung der meisten Ernährungsempfehlungen nur durch Kunstgriffe funktioniert. Ernährungsbezogene Empfehlungen entstehen normalerweise so, dass Unter- und Obergrenzen definiert werden. Zum Beispiel würden Menschen im Durchschnitt mit weniger als 0,8 g Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag auskommen. Aber mit Sicherheitszuschlägen kommt dann die offizielle Empfehlung von 0,8 g Protein für Erwachsene heraus. An der Obergrenze wird ähnlich verfahren. Dort, wo noch keine körperlichen Schäden auftreten, wird ein Sicherheitsabschlag vorgenommen und eine maximale Zufuhrempfehlung ausgesprochen (2,0 g Protein/kg/KG/Tag).
Pi mal Daumen
Ist man ganz ehrlich, sind die meisten normativen Ernährungsempfehlungen eher Pi mal Daumen als vollständig rational begründbar. Wie konnte das passieren? Wir sind im ersten Schritt bei objektiven physikalischen und chemischen Messmethoden gestartet und nun stehen wir da und betreiben ein mehr oder weniger raffiniertes Rätselraten im Bezug auf viele normative Empfehlungen. Das ist rational betrachtet schwer zu begreifen und widerspricht dem Grunddogma der westlichen Naturwissenschaftsgläubigkeit. Gehen wir doch implizit fest davon aus, dass es für jedes Problem eine*n Expert*in gibt, der oder die uns exakt sagen kann, was richtig und was falsch ist.
Ernährungsexpert*innen
An diesem Punkt kommen wir zum sechsten und letzten Schritt der Entstehung von Ernährungsempfehlungen. Ist man ehrlich, ist an diesem Punkt kaum noch eine klare Korrelation zwischen Wissenschaft und normativen Ernährungsempfehlungen erkennbar. Allgemein gültige, normative Empfehlungen finden Platz auf einer Cocktailserviette (Vgl. METHFESSEL & SCHLEGEL-MATTHIES, 2010). Das heißt nicht, dass Ernährungsempfehlungen vollständiger Bullshit sind, sie sind jedoch für den Durchschnittsmenschen formuliert. Außerdem leben wir in einer Individualgesellschaft, in der Essen und Identität miteinander verstrickt sind (Vgl. KLOTTER, 2016). Zukunftsorientierte Ernährungsberatung und Ernährungstherapie arbeitet mit individuellen Konzepten.
Ernährungsmediziner*innen, Ernährungsberater*innen und Ernährungstherapeut*innen wird jedoch immer noch die undankbare gesellschaftliche Aufgabe zugeschustert, Ernährungsfragen allgemein zu beantworten für die es, rational betrachtet, selten ausreichende Evidenz gibt.
Ernährungsempfehlungen & -psychologie
Nun sind wir in sechs Schritten zu dem Schluss gekommen sind, dass die meisten Ernährungsempfehlungen nicht für alle Menschen gleichermaßen passen. Aber das Problem wird noch gravierender. Denn bei der Erforschung von epidemiologischen Daten im Bezug auf die Ernährung des Menschen gibt es ein weiteres entscheidendes Hindernis: Versuchstiere wie Ratten kann die Wissenschaft ihr ganzes Leben unter kontrollierten Bedingungen halten und auf diese Weise die Nahrungszufuhr sowie die entstehenden Mangelzustände und Erkrankungen erforschen. Mit Menschen ist dieses Verfahren aus ethischen Gründen deutlich schwieriger durchführbar (zum Glück).
Ernährungsempfehlungen & Underreporting
Da die Wissenschaft Menschen nicht ihr Leben im Labor verbringen lassen kann, werden für Ernährungserhebungen im Normalfall Fragebögen verwendet. Aber wie verlässlich sind die darüber erhobenen Daten? In der psychologischen Fachsprache gibt es ein Phänomen mit dem Namen „Underreporting“. Underreporting ist für die Relevanz von Ernährungsempfehlungen entscheidend, weil Menschen in Verzehrserhebungen regelmäßig signifikant geringere Nahrungsmengen angeben, als sie rechnerisch zu sich genommen haben müssten.
In einer Gesellschaft, die einem solch rigiden Schlankheitsideal unterworfen ist wie die unsrige, sind gute Daten über Verzehrmengen schwer zu erheben.
Die Grenzen der Messbarkeit
Wir können mittlerweile weite Teile der Welt messen. Aber Menschen sind vielleicht einfach nicht dafür geeignet vermessen zu werden. Wenn uns jemand fragt, wieviel wir essen oder was wir wiegen, geben wir nicht einfach eine Antwort, wie ein Computer es tun würde. Stattdessen stellen wir uns innerlich Fragen. Zum Beispiel, wen zur Hölle diese privaten Dinge etwas angehen. Außerdem sind wir fühlende Wesen, die sich evtl. peinlich berührt fühlen und schämen, wenn wir vor uns und anderen eingestehen sollen, dass wir mehr gegessen haben als wir uns vorgenommen haben oder mehr wiegen als wir es laut Normwert tun sollten.
Empathie oder Kontrolle
Wenn wir wollen, dass Menschen möglichst schnell viel abnehmen, ist es clever sie zu wiegen und zu vermessen. Am besten in Unterwäsche. Aus Scham beginnen viele sicherlich schnell eine radikale Diät. Als Ernährungsfachkraft kann man so messbare Ergebnisse feststellen. Diese sind zwar meist nicht nachhaltig, aber immerhin kann sich die Ernährungsfachkraft auf die Schulter klopfen. Wenn wir jedoch das langfristige Wohlbefinden unserer Klient*innen im Sinn haben, werden wir sie nicht wiegen und kontrollieren sondern stattdessen versuchen empathisch zu verstehen, auf die individuelle Situation einzugehen, ressourcenorientiert zu arbeiten und eine gute Beziehung herzustellen. Denn:
„Die Beziehung heilt, die Beziehung ist alles“, wie schon der humanistische Psychologe Carl Rogers konstatierte.
Empathisches Verstehen
Wir Menschen können uns noch so sehr selbst reflektieren, die individuelle Selbsterkenntnis hat Grenzen. Bei manchen Themen helfen Gespräche mit Partner*in, Freund*innen oder engen Familienmitglieder*innen. Für verzwickte Probleme, insbesondere solche, deren Wurzeln weit in die Vergangenheit reichen, benötigen wir manchmal auch empathische Unterstützung von einer neutralen Person. Im gewissen Maße liegen hier die Arbeitsgebiete von Sozialarbeiter*innen, Psychotherapeut*innen und Ernährungstherapeut*innen enger beieinander als man annehmen könnte.
Empathie, Echtheit und unbedingte Wertschätzung sind die Grundzutaten, die Menschen Verhaltens- und Einstellungsänderungen ermöglichen.
Ernährungsphilosophische Betrachtung
Gehen wir nun von der Psychologie in Richtung der Ernährungsphilosophie und beginnen logisch zu schlussfolgern. Logik ist nicht mit Wahrheit zu verwechseln, aber sie lässt zu, dass wir uns unter gewissen Umständen der Wahrheit annähern. Wenn wir verstehen wollen, wie Ernährungsempfehlungen zustande kommen, müssen wir uns vor Augen führen, dass reine Wissenschaft ein Ideal ist, das selten vollständig erreicht wird. Fast immer gibt es auch wirtschaftliche, politische und andere Interessen, die ebenfalls Einfluss auf die offiziellen, normativen Empfehlungen nehmen.
Ernährungsempfehlungen und Rationalität
Normative Ernährungsempfehlungen von offiziellen Fachgesellschaften machen einen seriösen, verlässlichen, rationalen Eindruck. An diesem Punkt möchte ich auf die Begriffsdefinition von Rationalität eingehen. Von „Oxford Languages“ wird Rationalität als das „Wesen einer Sache“ oder als „Ausprägung der menschlichen Vernunft“ definiert. Das „Wesen“ der menschlichen Ernährung können wir gewissermaßen im Labor erkunden (s.o.). Aber die Definition der „Ausprägung der {menschlichen} Vernunft“ ist eine kniffeligere Angelegenheit.
Denn Rationalität und Vernunft können aus Sicht eines Staates oder eines Unternehmens etwas vollständig anderes sein, als aus der Sicht eines Individuums.
Was ist Vernunft?
Jetzt könnten wir uns von einer Definition zur nächsten hangeln. Allerdings halte ich dies für relativ langweilig und fruchtlos. Daher gleich zur Kernfrage: Was ist Vernunft und wer entscheidet das? Die (Medizin)geschichte ist voll mit Irrtümern und das wird sich vermutlich nicht allzu schnell ändern . Der menschliche Erkenntnisgewinn ist zwar weit gekommen, aber vieles befindet sich noch immer im Dunkeln. Anderes war zu gewissen Zeiten schon klar und stellte sich später doch als Irrtum heraus. Somit ist vernünftiges Wissen und Handeln stets (auch) ein Spiegel der Gesellschaft, nicht rein objektive Wahrheit (Vgl. z.B. FOUCAULT, 1973/2020).
Zum Beispiel mag es für einen Staat rational und vernünftig sein, sich in allgemeinen Ernährungsempfehlungen an Lebensmitteln zu orientieren, die für den jeweiligen Staat günstig herzustellen und daher strategisch klug sind.
Rationalität = Überleben
Nassim Nicholas Taleb, einer meiner Lieblingsautoren, hat Rationalität direkt mit Überleben assoziiert. „Rational“ ist laut Taleb all das, was das Überleben sichert (TALEB, 2020). Das bedeutet auch, dass Rationalität nicht ohne Weiteres im Vorhinein bewertet werden kann. Möglicherweise mag es in einer Überflussgesellschaft für die Gesamtgesellschaft irrational wirken, wenn einzelne Individuen stetig mehr Kilokalorien zu sich zu nehmen, als ihr Körper verbrennt. Aber falls der dritte Weltkrieg ausbricht und alle schlanke Menschen verhungern würden, würde sich das oft gescholtene und pathologisierte Verhalten eines Adipösen, der über seine Bedürfnisse isst, als individuell gesehen höchst rational herausstellen.
Rationalität und Angst
Wenn wir über Leben und Tod, Hunger und Überfluss sprechen, landen wir direkt beim Thema Angst. Angst ist der Auslöser vieler Psychopathologien und je tiefer die Angst angelegt ist, desto stärker wirkt sie sich auf das individuelle Verhalten aus. Laut Irvin Yalom verbindet alle Menschen eine tiefsitzende, großenteils unbewusste Todesangst (YALOM, 1980). Manche Menschen können aus unterschiedlichen Gründen nicht auf eine reife Art mit ihren Ängsten umgehen. Gut möglich, dass in der (Todes-)Angst auch der existenzielle Grund für das Phänomen von Suchterkrankungen zu suchen ist. Sowohl im Bezug auf stoffgebundene Süchte, als auch auf Verhaltensweisen. Essen inklusive.
Fazit: Ernährungsempfehlungen, Sucht und Genuss
Es ist sicherlich eine unreife und irrationale Bewältigungsform aus lauter Todesangst mit einer gesundheitsschädlichen Sucht langsam zu Tode zu siechen. Gleichzeitig gibt es Suchtexperten, wie Dr. Gabor Maté, die Sucht und psychisches Trauma miteinander in Verbindung bringen. Sucht wäre so eine (unreife) Möglichkeit, eine eingekapselte Sicherheit in einer traumatisch beängstigenden Welt zu finden. Möglicherweise ist dieses Verhalten für das Individuum die einzige oder sogar bestmögliche Weise mit einer ansonsten unerträglichen Lebenssituation umzugehen (Vgl. MATÉ, 2021). Angeblich rationale, normative Ernährungsempfehlungen müssen aus dieser Sicht komplett ins Leere laufen, weil sie die menschliche Psyche vollständig ignorieren.
Übermäßiges Essen als Bewältigung traumatischer Erlebnisse ist eine verständliche Bewältigungsstrategie und keine moralisch zu bewertende „Fehlfunktion eines Individuum“.
Die Alternative zur Sucht: Genuss
Nun, was wäre denn eine reifere Alternative zu Suchtverhalten? Wie wäre es mit Genuss? Genuss wird teilweise als kleine Schwester der Sucht bezeichnet. Man könnte ihn jedoch auch als reife Form der Begegnung mit der Todesangst betrachten. Denn Genuss findet immer im aktuellen Moment statt und egal was der Sensenmann auch tut, den genüsslichen Moment kann er mir nicht mehr nehmen. Der französische Philosoph Emmanuel Lévinas meint, dass wir durch unsere Art zu genießen unsere Unabhängigkeit demonstrieren- ein kluger Gedanke (LÉVINAS, E. (1980/2014). Genuss kann viele Formen annehmen und im Genuss (von Essen) steckt eine unübersehbare Rationalität- der Moment in dem ich genieße, ist unauslöschbar. Zudem steckt im Genuss stets das Element des maßvollen Umgangs.
Den individuellen Genuss zu entdecken und zu pflegen, ist somit die vielleicht rationalste Ernährungsempfehlung. Denn er bezieht den Tod implizit mit ein und begegnet ihm maßvoll.
Quellen:
ELMADFA, I./ LEITZMANN, C. (1988/2019): Ernährung des Menschen; 6. überarbeitete Auflage
KLOTTER, C. (2016) – Identitätsbildung über Essen, Ein Essay über „normale“ und alternative Esser
FOUCAULT, M. (1973/2020): Wahnsinn und Gesellschaft; 24. Auflage
LÉVINAS, E. (1980/2014): Totalität und Unendlichkeit – Versuch über die Exteriorität; 5. Auflage
MATÉ, G. (2021): Im Reich der hungrigen Geister: Auf Tuchfühlung mit der Sucht – Stimmen aus Forschung, Praxis und Gesellschaft
METHFESSEL, B./ SCHLEGEL-MATTHIES, K. (2010): Ernährung und Diätetik. In: Hoefert, H-W./ Klotter, C. (Hrsg.): Gesunde Lebensführung – kritische Analyse eines populären Konzepts;
TALEB, N.N. (2020): Das Risiko und sein Preis – Skin in the Game
Yalom, I.D., (1980): Existentielle Psychotherapie