Philosophie der Gesundheit
Philosophie der Gesundheit
In unserer modernen Zeit ist Gesundheit die Grundmaxime. Wer nicht gesund ist, ist nicht leistungsfähig und Leistungsfähigkeit gilt neben der Vernunft als das höchste Gut der Moderne. Aber lasst uns doch Gesundheit einmal aus einem philosophischen Blickwinkel betrachten. Was ist Gesundheit?
Früher ging man davon aus, dass „Gesundheit die Abwesenheit von Krankheit“ sei.
Mittlerweile geht die Weltgesundheitsorganisation (WHO) allerdings noch ein gutes Stück weiter. Laut der WHO ist Gesundheit ein Zustand des völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht nur die Abwesenheit von Krankheit. Ganz schön hohe Ansprüche, oder was denkst Du?
Wir wollen uns dem Thema mit einer Philosophie der Gesundheit nähern. Viel Spaß beim Lesen :-)
Definition Gesundheit
Die genaue Formulierung der WHO-Definition lautet:
„Gesundheit ist der Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens (engl.: well-being) und nicht nur des Freiseins von Krankheit und Gebrechen. Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen, ist eines der Grundrechte jedes Menschen, ohne Unterschied der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.“
Philosophie der Gesundheit
Aber wer zur Hölle ist denn durchgängig im Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens? Also nach der Definition bin ich ziemlich häufig nicht gesund. Ich kann nicht mal sagen, wie häufig ich nach dieser Definition gesund bin. Denn im Zustand „vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens“ denke ich gerade nicht über meine Gesundheit nach. Ganz im Gegenteil, üblicherweise denke ich gerade dann über meine Gesundheit nach, wenn ich mich krank fühle. Wenn ich nach der Definition der WHO gehe, kann ich nur dann gesund sein, wenn ich nicht über meine Gesundheit nachdenke. Es sei denn, ich bin gerade in einem Zustand tiefer Dankbarkeit für meinen guten Gesundheitszustand.
Dankbar für die kleinen oder „selbstverständlichen“ Dinge im Leben zu sein, scheint sich positiv auf unsere Lebensqualität auszuwirken. Das betrifft auch und gerade die Dankbarkeit für unsere Gesundheit
Sind Gesundheitsexperten gesünder?
Wenn Gesundheit besser funktioniert, wenn wir nicht darüber nachdenken, wäre der Gesundheitstrend, dem wir uns gerade gegenüber sehen, äußerst destruktiv für unsere Gesundheit. Dann sind Gesundheitswissenschaften eigentlich ein Verbrechen an der Gesundheit derer, die das Fach studieren. Oder sind Student*innen der Gesundheitswissenschaften grundsätzlich masochistisch eingestellt und stehen darauf durch ihr Studium weniger gesund zu sein? Oder sind sie grundsätzlich dankbarer für ihre Gesundheit?
Philosophie der Gesundheit – bewusst oder unbewusst?
Ich möchte mich nicht in rhetorischen Fragen verlieren. Aber Gesundheit scheint etwas zu sein, das dann am meisten gestärkt werden kann, wenn es unbewusst gelebt wird. Bewusst wird uns Gesundheit meist als Mangel, als Krankheit. Durch das Fehlen der Gesundheit wird sie uns bewusst und führt zu Leid. Der Wert von unbewusst ablaufenden Gewohnheiten, die unsere Gesundheit „ganz nebenbei“ unterstützen, scheint hier ein spannender Ansatz zu sein. Wie viel bewusste Anstrengung sollten wir in die Stärkung und Aufrechterhaltung unserer Gesundheit investieren?
Philosophie der Gesundheit nach Nietzsche
„Gesundheit ist dasjenige Maß an Krankheit, das es mir noch erlaubt, meinen wesentlichen Beschäftigungen nachzugehen.“
Dieser Satz wird Friedrich Nietzsche zugeschrieben. Aber was sagt er aus? Nietzsche hat, in historisch umgekehrter Reihenfolge, den Satz der WHO in sein Gegenteil verkehrt. Statt Gesundheit mit einem Anspruch an Perfektion gleichzusetzen, hat Nietzsche Gesundheit überspitzt zu einer Art „notwendigem Übel“ gemacht. Ein Werkzeug, vielleicht eine Säge, die gerade so scharf sein muss, um damit noch sägen zu können, aber kein bisschen schärfer. Pflege solle man in die Säge oder seine Gesundheit nur dann stecken, wenn die wirklich wichtigen Dinge im Leben nicht mehr funktionieren.
Diese Einstellung zur Gesundheit passt zynischerweise zu Nietzsches frühem Ableben und schlechtem Gesundheitszustand schon in jungen Jahren. Vielleicht hat er aber auch gerade aufgrund seines schlechten Gesundheitszustands einen geringen Anspruch an seine Gesundheit gehabt.
Philosophie der Gesundheit – Salutogenese
Einen ästhetischen Mittelweg schein Antonovsky mit seiner Idee der Salutogenese (lateinisch salus ‚Gesundheit‘, ‚Wohlbefinden‘ und -genese, also etwa „Gesundheitsentstehung“) gefunden zu haben. Statt Gesundheit als einen perfekten Zustand (WHO) oder ein notwendiges Werkzeug (Nietzsche) zu betrachten, versucht die Salutogenese einen ganzheitlichen Blick auf das Thema Gesundheit zu werfen.
Gesundheit ist mehrdimensional
Gesundheit ist dann kein Begriff mehr, der sich lediglich dem Individuum zuwendet und sagt: „Mach mich besser!“, sondern ein komplexes System aus sozialen, ökonomischen, ökologischen, psychologischen und kulturellen Faktoren, die sich gegenseitig beeinflussen. Dadurch wird zum einen das Individuum entlastet. Und zum anderen befähigt. Denn Antonovsky hat mit seinem Konzept der Salutogenese drei Dimensionen ausgemacht, die zur Gesundheit eines Menschen beitragen
Die Fähigkeit, die Zusammenhänge des Lebens zu verstehen – das Gefühl der Verstehbarkeit.
Die Überzeugung, das eigene Leben gestalten zu können – das Gefühl der Handhabbarkeit oder Bewältigbarkeit (ähnlich dem Begriff der ‚Selbstwirksamkeitserwartung‘ nach Albert Bandura).
Der Glaube an den Sinn des Lebens – das Gefühl der Sinnhaftigkeit.
Philosophie der Gesundheit – Fazit
Es ist verwirrend und faszinierend zugleich, dass Gesundheit stets auch eine spirituelle oder philosophische Dimension zu haben scheint. Denn daran zu glauben, dass das eigene Leben einen tieferen Sinn hat, ist eine Sichtweise, die der materialistischen Sichtweise der Moderne diametral widerspricht. Können wir diesen Widerspruch auflösen?
Philosophie der Gesundheit – Rassismus
Eigentlich wollte ich den Blogbeitrag mit der obigen Frage beenden. Allerdings gibt es heute, am Dienstag, den 02.06.2020, während ich schreibe, erneut großflächige Demonstrationen gegen Rassismus im Allgemeinen und gegen die grausame Polizeigewalt gegen George Floyd im Speziellen. Der zweite Satz der WHO-Gesundheitsdefinition vom Beginn dieses Beitrags lautet:
„…Sich des bestmöglichen Gesundheitszustandes zu erfreuen, ist eines der Grundrechte jedes Menschen, ohne Unterschied der ethnischen Zugehörigkeit, der Religion, der politischen Überzeugung, der wirtschaftlichen oder sozialen Stellung.“
Gesellschaftliche Gesundheit heißt Gleichberechtigung
Die aktuelle Situation in den USA sollten uns nicht nur über übermäßig grausame Polizeigewalt nachdenken lassen. Wir sollten uns zugleich die Frage stellen, wie weit wir noch immer vom zitierten Ideal der WHO entfernt sind. Denn ethische Zugehörigkeiten und soziale Stellung sind auch im angeblich zivilisierten Westen wichtige Voraussetzungen für beruflichen Erfolg, Bildungschancen und Gesundheit. Lasst uns das gemeinsam ändern!