Abnehmen? – Eine Idee für Agnostiker
Abnehmen? – Eine Idee für Agnostiker
Das Abendland, also auch Westeuropa, ist entscheidend von der Philosophie Platons geprägt. Platon teilte Emotionen und Leidenschaften in gut und schlecht ein. Mäßigung und Ehrliebe sind für ihn „rein gut“. Begierden und Lüste sind für ihn „schlecht“. Unsere heutigen Ernährungsempfehlungen sind geprägt durch diese Doktrin. Aber woher wusste Platon das eigentlich alles so genau? Naja, er war halt Philosoph – und Philosophen müssen so etwas wissen. Hmm, irgendwie scheint diese Begründung seiner Lehren etwas, wie soll ich sagen, kurz gedacht. Doch wie entstand der Gedanke, dass wir alle schlank und deswegen ständig mit abnehmen zugange sein müssten?
Abnehmen mit Platon
Platon war der Meinung, dass die Seele bzw. der Geist gepflegt werden müssen, während der Körper und dessen Impulse gezügelt werden sollten. In den letzten knapp 2500 Jahren seit Platon war der Sex meist das körperlich verpöhnte, während dem zügellosen Essen, z.B. im alten Rom oder in den 50er Jahren in Deutschland, kein Riegel vorgeschoben, sondern, zumindest im letzteren Falle mit Manneskraft in Verbindung gebracht wurde. Heute ist das anders. Ein schlanker Körper ist in unserer modernen Gesellschaft zur Pflicht erhoben worden.
Die Seele und das Paradies
Noch einmal zurück zur „Seele“. Wieso um alles in der Welt sollte ich meine Seele stärken und meinen Körper zügeln? Platon ging davon aus, dass anders kein Eintritt durch die Himmelspforte möglich wäre. Also ist das Paradies laut Platon nur über Schlankheit und Mäßigung zu erreichen. Das Christentum hat viele Ideen von Platon übernommen, aber die Grundidee bleibt die selbe. Das gute Leben im Diesseits sollte man lieber vermeiden, denn sonst versaut man es sich mit Gott (Christentum) oder den Göttern (Antike).
Eintritt ins Himmelreich
Kurzum, wer an Gott oder Götter, ein Leben nach dem Tod und Gut & Böse glaubt, sollte weiterhin Schlankheitsdoktrinen folgen. In diesem Fall darf der Lebensstil im Diesseits keinesfalls zum guten Leben beitragen. Denn wenn es uns hier zu gut geht, lässt uns ja keiner ins Himmelreich. Anders ausgedrückt: Dich selbst zu disziplinieren, zu geißeln und zu quälen ist nach dieser Logik bereits Selbstzweck. Dabei geht es keineswegs um Selbstdisziplin, um Ziele zu erreichen, die dir in diesem Leben wichtig sein könnten.
Denn das weltliche Leben ist nach dieser platonischen/ religiösen Weltanschauung lediglich ein Test.
Abnehmen mit Darwin
Jetzt mal angenommen, die Evolutionstheorie hat weitestgehend recht… dann bräuchten wir überhaupt keinen Gott oder gleich viele verschiedene Götter um dieses wunderbare, unfassbare Universum zu beschreiben. Denn sollte Darwin Recht gehabt haben, fühlen wir Liebe, Stolz, Ehrfurcht und Ästhetik nicht, weil diese angenehmen Gefühle „gottgegeben“ sind, sondern weil sie sich in einem Milliarden Jahre andauernden, evolutionären Prozess entwickelt haben. Das heißt nicht, dass wir diese Gefühle nicht mehr fühlen sollten. Es heißt lediglich, dass wir das Leben getrost ein wenig lockerer nehmen können.
Wenn wir tot sind, werden wir nämlich so oder so in kürzester Zeit jedes Schlankheitsideal übertreffen.
Abnehmen, Darwin und Evolutionstheorie
Denn nach Darwins Evolutionstheorie ist unser Leben in dem Moment vorbei, indem unsere überlebenswichtigen Körperfunktionen versagen. Dann gibt es kein göttliches Gericht, sondern… Nichts. Absolute Leere. Das klingt erstmal ziemlich doof, hat aber auch ein befreiendes Potenzial. Weil, wenn der Tod gewiss ist und der Tod das Ende bedeutet, dann müssen wir auch nicht maßvoll sein, um Gott zu gefallen. Dann können wir Maßhalten als etwas ansehen, zu dem wir uns selbst entscheiden. Wenn es uns aus gesundheitlichen- aber ganz besonders aus Genussgründen sinnvoll erscheint.
Abnehmen durch Genuss?
„Durch Genuss definieren wir unsere Individualität“
So beschreibt es Prof. Dr. Christoph Klotter, frei nach Emmanuel Lévinas. Da Individualisierung ein Leitgedanke der modernen Welt ist, wäre das Verstehen, die Formung und die Verfeinerung des eigenen, subjektiven Erlebens deutlich sinnvoller als der ewige Kampf gegen uns selbst. Genussempfinden, ästhetische Gefühle, Stolz und andere subjektiv angenehme Empfindungen würden somit einen intrinsischen Wert erhalten, da sie Ausdruck unserer inneren Individualität darstellen. Dadurch würde sich die Lebensgestaltung grundlegend verändern.
Das „Es“ im Blick behalten
Laut Sigmund Freud gibt es einen primitiven Teil in uns, der nach nichts anderem strebt als Lustgewinn und -maximierung. Welchen Sinn ergibt es, diesen Teil, das sogenannte „Es“, andauernd von uns abspalten zu wollen, nur um am Ende NICHT in den Himmel zu kommen, weil nach dem Tod nur das große Nichts kommt? Auf der anderen Seite wäre es sicherlich auch nicht besonders sinnvoll, dem „Es“ die vollständige Kontrolle über unser Leben zu geben, würde es doch automatisch in suchtartigem Essverhalten münden.
Freud schlug daher vor, dass „Ich“ zu stärken, damit es effektiv zwischen „Es“ und „Über-Ich“ vermitteln kann.
Mehr Lust durch Genuss
Möglicherweise benötigen wir gar nicht mehr von einem bestimmten Lebensmittel, um mehr Lust zu empfinden. Vielleicht können wir aus kleinen Mengen an ausgewählten Lebensmitteln viel mehr Genuss ziehen, als wir das bislang dachten. Genuss ist eine Fähigkeit, die gelernt werden kann. Frei nach Freud könnte Genießen bedeuten, dass wir unser „Ich“ stärken und dadurch sowohl das „Es“ besser kontrollieren als auch mehr Unabhängigkeit vom „Über-Ich“ (dem Gewissen/ den gesellschaftlichen Regeln) erlangen. Dann könnte Lust, wie schon der griechische Philosoph Epikur vorschlug, zum Leitmotiv unseres Lebens auf diesem Planeten sein. Dann müssen wir nicht länger für das Himmelreich darben, was womöglich niemals eintritt.
Quellen:
- Jonathan Haidt – „Die Glückshypothese“, Seite 17
- C. Klotter – „Identitätsbildung über Essen – Ein Essay über „normale“ und alternative Esser“, 2016, Seite 25
- C. Klotter – „Identitätsbildung über Essen – Ein Essay über „normale“ und alternative Esser“, 2016, Seite 7