Orthorexie - Die Geschichte von Mark

Orthorexie – Die Geschichte von Mark

In der heutigen Essgeschichte geht um die tragische Geschichte des Fitnessinfluencers Mark. Wie immer sind Identitäten durch Veränderung von Namen, Orten und Handlungen geschützt. Für einige Menschen auf den sozialen Medien mag sich diese Geschichte möglicherweise trotzdem wie ein Spiegelbild anfühlen. Das ist leider nicht vermeidbar, weil das Phänomen, das ich mit dem kontrovers diskutierten Namen „Orthorexie“ beschreibe, auf Instagram, Facebook, YouTube und Co. so stark zelebriert und idealisiert wird, dass krank und gesund in einem wirren Zerrbild ineinander zerfließen. Dieser Blogbeitrag erzählt die „Erfolgsgeschichte“ der Orthorexia nervosa anhand von Ereignissen im Leben von Mark. 

Vorbemerkung

Der Begriff „Orthorexie“ oder „Orthorexia nervosa“ wird neben „Anorexia nervosa“, „Bulimia nervosa“ und „binge-eating-disorder“ als vierte Essstörung diskutiert. Eine einheitliche Meinung unter Expert*innen fehlt bislang. Zudem wird im Rahmen der Orthorexie meistens lediglich über ein zwanghaft gesundes Ernährungsverhalten berichtet. Die heutige Essgeschichte legt ein Bild dar, dass Orthorexie als mit dem Bewegungsverhalten und letztendlich dem gesamten Leben des imaginierten Charakters von Mark in Verbindung zu bringen versucht.

Orthorexie – wenn Gesundheit krank macht

Als Kind war Mark ganz normal. Oder wie er es heute nennen würde: Ein schwabbeliger Lauch. Er war normal groß, hatte etwas Babyspeck und liebte Pommes mit Majo. Besonders im Schwimmbad, wo er es im Sommer sehr genoss mit seinen Eltern und später mit seinen Freunden planschen zu gehen. Nicht schwimmen – planschen. Es ging um Spaß, um die Freude an der Sache. Doch einmal, da hat ihn ein älterer Jugendlicher unter Wasser gedrückt. Angeblich war es nur Spaß, aber Mark dachte in diesem Moment, er müsse sterben. Er hat sich schwach und verletzlich gefühlt.

Stark sein müssen

Nach dem er das mit 12 Jahren erleben musste, nahm sich Mark vor, dass ihm so etwas nie wieder passieren würde. Er würde so stark werden, dass niemand sich trauen würde ihn unter Wasser zu drücken. Ab jetzt ging er nicht mehr zum Planschen ins Schwimmbad, sondern zum Trainieren. Sobald er alt genug dafür war, ging er ins Fitnessstudio und trainierte mehrmals die Woche. Er wurde stärker- und was noch wichtiger war: Er sah stärker aus. Die anderen Jugendlichen waren beeindruckt von seinem Sixpack und den Adern auf seinen Oberarmen. 

Orthorexie als Schutzpanzer

Allmählich entwickelte Mark Entzugssymptome wenn er nicht zum Sport gehen konnte. Einmal lag er mit 17 Jahren für zehn Tage krank im Bett. Anschließend fühlte er sich so schwach und verletzlich, dass er drei Stunden am Stück trainierte. So lange, bis er sich übergeben musste. Aber nach dem Training ging es ihm trotzdem besser. Er hatte mit seinem Geist seinen Körper überwunden. Er war stolz auf sich. Ja, er war stark. Stärker als sein Körper. Stärker als alle die er kannte. Niemand konnte ihm etwas anhaben. 

Die Angst unter dem Panzer

Doch Mark trägt ein trauriges Geheimnis mit sich herum. Ein Teil ganz tief in ihm drin, den er niemandem zeigt, hat immer noch furchtbare Angst. Manchmal träumt er davon, wie ihn jemand unter Wasser drückt. Dann wacht er schweißgebadet auf. Anschließend schlägt sein Herz so stark, dass er nicht mehr einschlafen kann. Um in solchen Momenten mit sich zurecht zu komme, geht er dann joggen oder macht Liegestütze bis er völlig erschöpft ist. Hauptsache nicht mehr schwach und machtlos fühlen. Mark hat keine Ahnung, was er anderes tun kann. Er kann nur versuchen alles perfekt zu machen, damit er sich ein bisschen sicher fühlt.

Orthorexie und Perfektion

Der Anschein von Perfektion gibt Mark Sicherheit. Wenn er ein perfektes Training hatte, fühlt er sich wohl. Wenn er die perfekte Menge Kohlenhydrate, Fett und besonders Protein gegessen hat, geht es ihm gut. Denn hier hat er die volle Kontrolle. Keine Zufälle können ihn daran hindern, genau das zu essen, was er bereits Wochen vorher präzise geplant hat. Er hat den Plan. Sein ganzes Leben dreht sich um Ernährung und Training. Sein Körper ist eine Maschine und das sieht man auch. 

Orthorexie und Darstellungskunst

Mark isst perfekt, trainiert perfekt und er weiß sich auch perfekt darzustellen. Er kann perfekt posen um seine feindefinierten Muskeln optimal zur Geltung bringen. Irgendwann hat er sich ein Fotoshootings bei einem professionellen Fotografen geleistet und als er die Aufnahmen bei Instagram gepostet hat, bekam er viele neue Follower dazu. Auch Mädchen finden ihn plötzlich attraktiv. Andere Jungs bewundern ihn. Jetzt wird er es allen zeigen. Sein Perfektionismus ist doch nicht krankhaft, Marks Orthorexie ist vorbildlich. Alle sollten so sein wie er. 

Orthorexie als Lebensinhalt 

Instagram, TikTok und YouTube sind Marks Welt. Hier kann er in Ruhe vorbereiten, was er seinen Follower*innen zeigen oder doch lieber vorenthalten möchte. Er probiert aus, was seine Gefolgschaft am besten findet. Die Algorithmen geben ihm zusätzliche Auswertungsvorschläge. Mark erkennt, dass es am besten ankommt, wenn er nicht halbnackt post, sondern „ganz natürliche“ Fotos hochlädt. Auch Rezepte, die angeblich beim Abnehmen helfen, kommen hervorragend bei seinen Follower*innen an. Er selbst verkörpert ja, dass man mit genug Selbstdisziplin einen tollen Körper erreichen kann. 

Orthorexie und tolle Körper

Dass sein Körper toll ist, weiß Mark selbst weniger genau als seine Follower*innen. Oft steht er vor dem Spiegel und allzu häufig findet er sich dabei noch immer lauchig und bauchig. Ein schwabbeliger Lauch halt. Darüber möchte Mark aber nicht nachdenken. Zu schmerzhaft. Das erinnert ihn ans Ertrinken und wer möchte schon in Gefühlen ersaufen. Also holt er sich auf Social-Media in der Kommentarspalte die Anerkennung und Bestätigung, die ihm innerlich fehlen. Dort sind sich seine Follower*innen sicher:

Mark hat einen tollen Körper und produziert großartigen Content. 

Suchtschleife

Marks Follower*innen brauchen Mark und seinen Content. Und Mark braucht seine Follower*innen auf Social Media. Fast genauso sehr wie exzessiven Sport und die optimale Ernährung. Wenn das beides nicht wäre… darüber möchte Mark gar nicht nachdenken. Er merkt manchmal selbst, wie abhängig er davon ist. Aber viel Sport und komplett durchgetrackte Ernährung sind doch gesund, oder? Und Instagram, TikTok und Youtube sind zum Glück Tag und Nacht verfügbar. Also ist für Mark eigentlich alles ganz okay. Zumindest so lange keine Zufälle dazwischenkommen. 

Familienessen und andere Zufälle

Schlimm wird es für Mark eigentlich nur dann, wenn er nicht alles kontrollieren kann. Beispielsweise wenn er bei seiner Oma zu Besuch ist. Dann ist es enorm schwierig den Nachschlag beim Essen oder den Nachtisch auszuschlagen. Mark möchte seine Oma nicht enttäuschen, denn er liebt sie sehr. Im Allgemeinen sind Zufälle für Mark eine absolute Zumutung. Was fällt der Welt eigentlich ein, seinem Willen im Wege zu stehen. Letztens zum Beispiel, ist Marks Kette an seinem Fahrrad gerissen. Einfach so, ohne Vorwarnung. Da war er dann eine Stunde zu spät dran mit Essen. Anschließend war er völlig durcheinander und hatte das Gefühl komplett die Kontrolle über sein Leben zu verlieren.

Cheat-Days und andere Geheimnisse

Aber Mark ist ein cleveres Kerlchen. Im Laufe der Zeit hat er nämlich bemerkt, dass seine Follower*innen total darauf stehen, wenn sie sehen, dass er das Leben auch locker nimmt. Sich auch mal was gönnt. Deswegen hat er sich eine feste Regel ausgedacht, die den Zufall im Leben besser kontrollieren kann. Er darf ein Mal pro Woche einen Cheatday machen oder alternativ drei Cheat-Mahlzeiten in seinen Wochenablauf einbauen. Jetzt macht er es einfach so, dass er immer eine Cheat-Mahlzeit in petto hat. So kann ihm nix mehr passieren. Wenn seine Fahrradkette das nächste Mal reißt, isst er einfach einen Burger und macht einen „Cheat-Meal-Post“. 

Das lieben die Leute. #einfachmalspontansein

Von der Orthorexie zur Geschäftsidee

Mark hat ein paar Semester studiert. Aber eigentlich hat ihn das Gequatsche seiner Profs überhaupt nicht interessiert. Er hat wichtigeres im Kopf als Studienabschlüsse. Nämlich Sport, Essen und seinen Körper. Aber ihm war dennoch immer bewusst, dass seine Eltern nicht für immer seinen „Fitness-Lifestyle“ finanzieren würden. Als er seinen 10.000. Follower auf Instagram bekam, hatte er eine geniale Idee. Wenn ihn schon alle bewunderten, könnten sie ihn ja auch finanzieren. Und er wusste auch schon wie. Mark würde Coach werden.

Mark der Coach

Coaching hat viele Vorteile. Zum Beispiel den, dass man dafür keine echten Qualifikationen benötigt. Man benötigt lediglich Kund*innen, die daran glauben, dass man ihnen wirklich helfen kann. Und Mark wusste, was seine Kund*innen wollen. Sie wollen jemanden, der ihnen half abzunehmen. Über Abnehmen weiß Mark tatsächlich so ziemlich alles was man wissen kann. Außerdem hat er ja auch ein perfektes Argument, warum gerade ihm zu vertrauen wäre: Die Fotos von seinem perfekt definierten und gebräunten Beachbody.

Bilder statt Inhalt

Mark begann nun, seine Bilder auf Social Media immer zielgerichteter einzusetzen. Neben die Darstellung seines eigenen Körpers gesellten sich nun Low-Carb-Rezepte, seriös wirkende Schaubilder, die zeigen wie Gewichtsverlust wissenschaftlich funktioniert und Motivationssprüche, die an die Selbstdisziplin appellieren. Alles in allem zeigte er die perfekte Anleitung. Wer es mit seiner Hilfe nicht schaffen würde abzunehmen, war nun wirklich selbst schuld. Mark glaubte das auch selbst. Also meistens. Er war ja selbst mal ein schwabbeliger Lauch gewesen und schaffte es sich zu disziplinieren. Dann sollten es andere ja wohl auch hinbekommen. 

Abnehmen funktioniert

Marks Erfahrungen mit seinen Kund*innen sprechen für sich. Innerhalb weniger Monate verlieren diese meistens im zweistelligen Kilogramm-Bereich Gewicht. Mark hatte sich noch nie so toll gefühlt, wie in dem Moment, in dem er merkte, dass sein Plan funktionierte. Er hatte eine einzigartige Methode gefunden, die Menschen beim Abnehmen hilft. Zumindest denjenigen, die dazu in der Lage sind, sich für ein paar Monate zu disziplinieren. Die anderen verachtet er sowieso. Nichts hasst Mark so sehr, wie undisziplinierte Menschen.

Der Jojo-Effekt

Nach zwei Jahren florierte Marks Business, seine Social-Media-Accounts wuchsen stetig und die Kundenanfragen kamen regelmäßig rein. Es gab nur ein Problem. Immer häufiger meldeten sich verzweifelte Kund*innen, die wieder zugenommen hatten. Der Großteil von ihnen wog ein Jahr nach der Diät mehr als vorher. Mark weiß gar nicht, wie er mit seiner ganzen Verachtung umgehen soll. Haben denn alle Menschen völlig den Verstand bzw. ihre Selbstdisziplin verloren? Ist er denn der einzige, der es schafft in Form zu bleiben? 

Selbstzweifel und Orthorexie

In stillen Momenten zweifelt Mark an seinem Lebensweg. Wenn alle anderen auf kurz oder lang scheitern, ist sein Programm vielleicht doch nicht so gut, wie er zu hoffen gewagt hatte? Oder ist es, wie erfahrene Psycholog*innen und Ernährungstherapeut*innen sagen, sogar krankhaft, wie er mit Sport und Ernährung umgeht? Mark ist hin- und hergerissen. Braucht er vielleicht Hilfe? Ist sein ganzes Business, mit dem er mittlerweile gutes Geld verdiente, lediglich eine Scharlatanerie? Aber nein, wenn es ihm schlecht geht, ist das einzige, das ihm helfen kann Sport, Kontrolle über seine Ernährung und die Bestätigung auf Social Media. Das kann doch nicht ungesund sein.

Immer tiefer in den Kaninchenbau

So kriecht Mark immer und immer tiefer in den Kaninchenbau, in den er sich seit seinem Erlebnis im Schwimmbad eingegraben hatte. Je tiefer er kriecht, desto länger und schwerer wird der Rückweg werden. Das Problem ist, dass sein Leiden im gewissen Maße belohnt wird, ohne jemals zur Freiheit zu führen. Seine Orthorexie gibt ihm das Gefühl von Kontrolle, Anerkennung und mittlerweile sogar finanzielle Freiheiten. Diese ändern zwar nichts daran, dass er in seinem Bedürfnis nach äußerer Anerkennung gefangen bleibt und sich immer mehr im Spinnennetz seiner eigenen Routinen verfängt, aber Mark kann nicht anders. Er ist der Kunde seiner eigenen Masche.

Marks Aussichten 

Nicht jede Geschichte hat ein Happy End. Wahrscheinlich entkommt Mark seinem eigenen mentalen Kaninchenbau nicht mehr. Zu sehr haben sich materielle Vorteile, sein Bedürfnis nach Anerkennung und seine Identität mit der Orthorexie verwoben. Aber wir sollten Mark nicht aufgeben. Er hat immer noch eine Chance, wenn er sich dafür entscheidet und die Bereitschaft zeigt, das Leiden durchzustehen, das er empfinden würde, wenn er sich seinen Gefühlen und besonders seinen Ängsten stellen würde. Eine Psychotherapie könnte Mark vielleicht helfen.

Gefühle zu Mark

Es ist verführerisch, in Mark einen Scharlatan zu sehen. Er belügt sich selbst und seine Kund*innen und baut ein Netz an falschen Behauptungen auf, die er mit pseudowissenschaftlichem „Cherrypicking“ untermauert. Aber eigentlich sollten wir lernen, Empathie mit Menschen wie Mark zu empfinden. Denn letztendlich ist Mark selbst das Opfer seiner Lebensumstände und Erfahrungen. Seine Handlungen dienen lediglich dazu, sich selbst zu schützen und zu versuchen, ein gutes Leben zu führen. Wie wir alle.

Selbstreflexion

Über Marks Essgeschichte zu schreiben, erfordert ein hohes Maß an Selbstreflexion für mich. Denn Mark ist kein Klient von mir und Empathie mit ihm zu empfinden, ist schwierig für mich. Die erste Reaktion, die ich Menschen wie Mark gegenüber habe, ist von negativen Emotionen geprägt. Wahrscheinlich liegt es daran, dass Mark einen Weg geht, der auch der meine hätte werden können. Auch ich war in der Diätkultur gefangen, habe auf Selbstdisziplin gesetzt und mich mit harter Hand geführt. Erst im Laufe meines Ökotrophologie-Studiums merkte ich allmählich, dass diese Art zu leben ungesund, schmerzvoll und getrieben ist.

Appell an Marks Kund*innen

All denjenigen, die an Marks Methoden gescheitert sind, möchte ich zurufen: „Du bist nicht allein. Ich möchte, dass du weißt, dass dein Scheitern an der von Mark auferlegten Diät kein Scheitern im Leben bedeutet. Ganz im Gegenteil. Dadurch, dass du dazu fähig bist dir doch noch zu erlauben schwach und bedürftig zu sein, zeigen sich deine gesunden Anteile. Du kannst deinem eigenen „Ich“ Güte und Nachsicht erweisen. Darauf solltest du stolz sein. Könntest du das nicht, würdest du wie Mark an Orthorexie leiden.“ Einer grausamen Störung des Essverhaltens, die viel mehr mit Sucht und Schmerz zu tun hat, als es von Außen wirkt.

Metaperspektive

Zoomen wir aus der individuumsbezogenen Perspektive heraus, wird deutlich, dass Orthorexie ein sich selbst reproduzierendes gesellschaftliches Problem darstellt. Menschen wie Mark machen ihre eigene Leidensgeschichte zu Geld, indem sie als Fitness-Influencer auf den sozialen Medien ein Ideal verkörpern, das für den Großteil der Menschen unerreichbar ist. Dadurch lösen sie in ihren Follower*innen ein Gefühl von Mangel aus. Dieses Gefühl von Mangel verstärkt wiederum die Diätkultur, welche im Umkehrschluss wieder Menschen wie Mark hervorbringt. Round and round it goes, where it stops, nobody knows. 

Lösungsansätze

Wie lässt sich ein Ausgang aus diesem gesellschaftlichen Teufelskreis finden? Ich denke, dass Gegenströmungen, wie die der „Anti-Diät“, „Health at every Size“, „Intuitives Essen“ und „Body Positive“  wichtige Meilensteine auf dem Weg zur Lösung des oben beschriebenen Problems darstellen. Es erheben sich zunehmend Gegenstimmen, die Menschen wie Mark von der Halbgottebene herunterholen. Das halte ich zwar für wichtig, allerdings sollten wir uns davor hüten, Menschen wie Mark zu verurteilen. Das würde die gesellschaftliche Kluft nur verbreitern. Stattdessen sollten wir ihr eigenes Leiden anerkennen und ihnen Hilfe anbieten. 

Schlussendlich bin ich davon überzeugt, dass der Weg zur Lösung mit Empathie gepflastert sein muss, wenn er zielführend sein soll.