Emotionales Essen

Emotionales Essen – was steckt dahinter?

Wie in den meisten anderen Lebensbereichen auch, erwarten wir auch beim Essen ein „rationales“ Vorgehen. Wir erwarten von uns, dass wir das tun, was uns den größten Nutzen bringt. Da wir alle selbstverständlich gesund und möglichst lange leben wollen (wollen wir das wirklich alle und immer?), ist es von größtem Nutzen sich gesund zu ernähren. Aber wie kommt es dann, dass angeblich 60 % aller deutschen Erwachsenen zu dick sind? Ein Teil der Antwort: Unsere Emotionen und Gefühle sitzen mit am Esstisch und oft haben sie das letzte Wort. Genau damit beschäftigt sich dieser Blogbeitrag: Emotionales Essen – was steckt dahinter?

Emotionales Essen

Wenn ich meine Klient*innen danach frage, aus welchen Gründen sie essen, ist „Hunger“ eine vergleichsweise seltene und unspektakuläre Antwort. Viele Menschen geben an aus Frust, Langeweile oder Traurigkeit zu essen. Traurigkeit ist eine Grundemotion, wohingegen Frust und Langeweile eher unspezifische Bewusstseinszustände sind. Also müssen wir, wenn wir über emotionales Essen sprechen wollen, erstmal die Frage aufwerfen und beantworten, was denn überhaupt Emotionen sind.

Grundemotionen

Laut Darwin haben wir Menschen sechs Grundemotionen. Furcht, Traurigkeit, Wut, Überraschung, Ekel und Freude. Seiner Auffassung nach haben alle Menschen, egal wo sie geboren sind, diese sechs Grundemotionen. Obwohl seit seiner Veröffentlichung zu diesem Thema bereits 150 Jahre vergangen sind, stimmen auch heute noch viele Wissenschaftler seinen Forschungsergebnissen zu. Der Psychologe und Anthropologe Paul Ekman hat den sechs Basisemotionen noch eine siebte Emotion hinzugefügt: Verachtung. Aber mit diesen sechs bzw. sieben Grundemotionen gehen die meisten Wissenschaftler*innen d´accord. 

Die Entwicklung von Emotionen

Die Entwicklung unserer Emotionen halfen uns vom „Flight, Fright, Fight or Sex“- Programm unserer frühen, hirnstammgesteuerten, primitiven Vorfahren zu komplexerem Verhalten zu gelangen. Emotionen gaben unseren Vorfahren ein größeres Spektrum an Verhaltensweisen und ermöglichten das soziale Zusammenleben in Gruppen. Über Millionen von Jahren der Evolution entwickelte sich so ein ausgeklügeltes, System, das uns half mit den Anforderungen unserer Umgebung besser zurecht zu kommen. 

Wir sollten jedoch im Hinterkopf behalten, dass unser evolutionäres Programm letztendlich zwei grundlegenden und im wahrsten Sinne des Wortes essenziellen Aufgaben dient: Überleben und Reproduktion.

Die Aufgaben von Emotionen

Schaut man sich die sechs bzw. sieben benannten Grundemotionen an, erkennt man, dass Freude die einzige rein angenehme Emotion ist. Während die fünf bzw. sechs anderen tendenziell unangenehm sind. Vermutlich haben sich diese Emotionen entwickelt, um uns vor Gefahren zu warnen (Ekel, Furcht), auf vergangene Fehler aufmerksam zu machen (Traurigkeit, Verachtung), unsere Achtsamkeit für unsere Umwelt zu erhöhen (Überraschung) und uns zu verteidigen (Wut). Diese fünf/sechs Emotionen haben sich entwickelt, um unser Überleben als Spezies zu ermöglichen, nicht um unser individuelles Leben angenehm zu machen. 

Selbsterhaltung vs. Sexualtrieb

Folgen wir dieser Spur, liegt es nahe, dass wir noch eine Emotion brauchen, die zur Reproduktion anregt: Freude. Sex und Essen sind beides Tätigkeiten, die Freude bereiten können, wobei das eine in der individuellen Entwicklung vor dem anderen kommt. Sigmund Freud stellte fest, dass der Selbsterhaltungstrieb mit dem Sexualtrieb konkurrieren kann. Unter gewissen Umständen wird letzterer verdrängt, was zu einer Regression in kindliche Verhaltensweisen führt. So können dann sexuelle Bedürfnisse nicht befriedigt werden und stattdessen wird die Freude oral übers Essen gesucht (Vgl. KLOTTER 2022, Seite 144). Essen und Sex sind daher eng miteinander verbunden.

Wenn es anders nicht geht, fallen wir eben wieder in frühkindliche Lebensphasen zurück, um uns die angenehme Emotion der Freude zu verschaffen.

Die Basisemotionen unter der Lupe

Möglicherweise lassen sich unsere sechs bzw. sieben Basisemotionen hierarchisch den Trieben zum Überleben und Reproduzieren unterordnen. Freud war ein scharfer Denker und wahrscheinlich hatte er auch in diesem Punkt recht. Den damit zusammenhängenden Implikationen möchte ich im folgenden auf den Zahn fühlen, in dem ich die Basisemotionen dahingehend betrachte, ob sie emotionales Essen auslösen können. Es stellt sich also die Frage, ob und inwiefern emotionales Essen und die jeweilige Grundemotion miteinander in Zusammenhang stehen.

Für emotionales Essen wenig relevant

Nach meinem intuitiven Empfinden und meinen praktischen Erfahrungen haben die Emotionen Verachtung und Überraschung relativ wenig mit emotionalem Essen zu tun. Wenn ich etwas oder jemanden verachtenswert finde, ist das kein Grund deswegen zu essen. Zumindest ist mir dieser Fall noch nicht begegnet oder bei einer Begegnung bewusst geworden. Überraschung halte ich ebenfalls nicht für einen direkten Auslöser von Essen. Zwar kann ich zu meinem Geburtstag mit einer Torte überrascht werden, was jedoch nicht dazu führt, dass ich sie aus der Emotion heraus direkt esse. 

Es bleiben also fünf Basisemotionen übrig, die ich als potenziell relevant für emotionales Essen halte. Diese fünf Emotionen werde ich im folgenden einzeln betrachten:

Freude

Bleiben wir bei dem Beispiel mit der Geburtstagstorte, kann es ja durchaus sein, dass ich mit meinem Gast, der die Torte mitgebracht hat, die Torte anschneide. Sowohl können wir aus Freude über das Schenken und Beschenkt-Werden gemeinsam im Genuss schwelgen, als auch aus Freude ein Stück Torte mehr essen, als gut für uns gewesen wäre. Der Akt des Essens selbst kann ja bereits Freude machen, was Freud wahrscheinlich als Regression in die orale Phase gedeutet hätte (siehe oben). Aus dieser Perspektive ist Essen aus Freude stets ein Akt der Selbstbefriedigung, der nicht genital ausgeführt wird. 

Ekel 

Erst einmal wirkt es ja furchtbar kontraintuitiv aus Ekel heraus zu essen. Ekel ist eine Emotion, die uns abstößt. Allerdings spielt Ekel, gerade in suchtartigen Verhaltensweisen, eine nicht zu unterschätzende Rolle. Je stärker wir uns in dem einen Moment von einem Suchtmittel oder -verhalten abgestoßen fühlen, desto lockender ist der Ruf im Moment des Begehrens. So ist es durchaus denkbar, dass sich jemand mit ambivalentem Verhältnis zum Essen und geringem Selbstwertgefühl, durch übermäßiges Essen und den damit erzeugten (Selbst-)Ekel selbst bestraft und damit seinen geringen Selbstwert affirmativ bestätigt.

Traurigkeit

Traurigkeit ist nach meiner Erfahrung die Basisemotion, aus der heraus zu essen gesellschaftlich am stärksten akzeptiert wird. In Filmen, Serien und Werbung ist das Sich-Trösten, paradigmatisch mit der Packung Eis auf dem Sofa, eine Normalität. Vielleicht ist das auch der Grund, warum relativ viele Menschen reflektieren können, dass sie aus Traurigkeit heraus essen. Das mütterliche Trösten des Säuglings, das an die Brust-Nehmen und ggfs. direkt Füttern, könnte eine Erklärung dafür abgeben, warum so viele Menschen Süßigkeiten als tröstlich wahrnehmen. Immerhin ist bereits die Muttermilch leicht süßlich.

Auch die Selbstverständlichkeit, mit der viele Eltern und Großeltern ihren etwas älteren Kindern und Enkeln Süßigkeiten zur Beruhigung geben, könnte aus dem Trost des Gesäugt-Werdens abgeleitet sein.

Fallbeispiel

In einer Beratungssequenz, die acht Beratungsstunden umfasste, hatte ich ein mehrgewichtiges Mädchen in meiner Praxis. Die Beziehung zwischen der Klientin und mir, welche stets die Grundbedingung einer gelingen Zusammenarbeit darstellt, lief gut. Dennoch endete die Beratungssequenz jäh, als der Klientin mit dem Satz „Ich bin lieber traurig als wütend“ bewusst wurde, dass sie nicht bereit war, etwas Grundlegendes zu verändern. Selbstverständlich akzeptierte ich ihre Entscheidung. Sie hatte die beste Lösung für ihre problembehaftete Lebens- und Familiensituation bereits unbewusst gefunden und nun auch bewusst gewählt – emotionales Essen aus Traurigkeit.

Wut

Der Ausspruch „Seine Wut in sich hinein(fr)essen“ spricht bereits Bände. Statt unserem Gegenüber für seine Dreistigkeiten ins Gesicht zu schlagen, lassen wir unsere Aggressionen an der nächsten Mahlzeit aus. Diese fällt dann womöglich größer aus, als wir das aus vernünftigen Gründen geplant haben. Wut ist eine aggressive Emotion, um unsere Grenzen zu schützen. Wenn wir das jedoch aus Gründen (z.B. Furcht – siehe weiter unten) nicht können, kann es uns zur Normalität werden, unsere Wut über orales Einverleiben von Welt (der Welt auf unserem Teller) auszuleben.

Furcht – die Grundlage von emotionalem Essen?

Die Grundemotion der Furcht spielt nach meiner Überzeugung eine besonders starke Rolle. Nicht nur beim Essen, sondern im Leben ganz allgemein. Alle Menschen fürchten sich und die Überkompensation von Angst führt zu vielen verschiedenen psychopathologischen Symptomen (Vgl. YALOM, 2015). Aus psychoanalytischer Perspektive kann Furcht die Körperform unbewusst beeinflussen. Dicksein gilt bei Frauen tendenziell als Schutz und bei Männern als Zeichen der Macht.

Indirekt steht beides mit Furcht in Zusammenhang – Furcht vor Schutzlosigkeit einerseits. Furcht vor Machtlosigkeit andererseits.

Furcht und Essverhalten

Wenn ich Angst um meine Sicherheit (mein Leben) haben muss, sobald ich meine Emotionen ungefiltert zum Ausdruck bringe, werde ich diese unterdrücken, verdrängen, in mich hinein essen. Oder auch eben nicht. Menschen sind zu unterschiedlich, um für alle zu verallgemeinern. Beispielsweise können Menschen aus Furcht vor der Welt auch das Essen aufgeben oder zumindest ihr Appetit erheblich vermindert werden. Anorexie (Magersucht) steht häufig mit einem Wunsch nach Kontrolle über das eigene Dasein in Zusammenhang. Darüberhinaus sind sowohl beim Überessen als auch bei der Essensverweigerung Beobachtungslernen, Konditionierung und Gewohnheitsbildung am Werk.

Die Reflexion der eigenen Gefühle und der darauf folgenden Reaktion ist essenziell, um etwas an seinem (Ess-)Verhalten ändern zu können.

Emotionales Essen & Ernährungsberatung

Zu den oben ausgeführten Zusammenhängen in paradoxerweise Beziehung steht der Anspruch in der „klassischen“ Ernährungsberatung. Hier wird von Krankenkassen und Ärzt*innen oftmals schlicht erwartet, dass das nötige formale Wissen vermittelt wird, damit die Klient*innen die „richtigen“ Entscheidungen treffen können. Das halte ich aus dreierlei Hinsicht für problematisch:
1. Betrachte ich es in Zeiten von Internet, Google und Apps für eine aussterbende Berufssparte, Menschen formales Wissen ohne Kontext zu vermitteln.
2. Das gesicherte formale Ernährungswissen, das für alle Menschen gleichermaßen gilt, ist äußerst begrenzt.
3. Die richtigen Entscheidungen sind nicht nur eine Frage logischer, vernünftiger Überlegungen, sondern auch eine Sache von Prägung und Emotionen.

Stirbt die klassische Ernährungsberatung aus?

Es könnte also die Frage gestellt werden, ob Ernährungsberatung tatsächlich ausstirbt. Es könnten dann noch sehr spezielle Beratungsinhalte übrig bleiben, für seltene Erkrankungen zum Beispiel. Aber ansonsten gibt es bald nicht mehr viel zu tun für Beratende, die ihr überlegenes Wissen vermitteln wollen. Es gibt jedoch auch sehr gute Argumente, genau das Gegenteil anzunehmen, das sich Ernährungsberatung quasi in einer Metamorphose befindet. Im Zwischenstadium zwischen Raupe und Schmetterling.

Humanistische Psychologie

Meine Weiterbildung zum Ernährungsberater/DGE habe ich im Jahr 2016 absolviert. Die deutsche Gesellschaft für Ernährung ist traditionell konservativ und normativ wenn es um Ernährungsempfehlungen geht. Allerdings wurde damals, vor 6 Jahren, bereits eine Beratungsmethodik gelehrt, die direkt aus der humanistischen Psychologie stammt- genauer gesagt aus der klientenzentrierten Gesprächsführung von Carl Rogers. 

Obwohl die DGE also an Ernährungspyramide und -kreis festhalten möchte, hat sie implizit bereits begriffen, dass Ernährungspsychologie die nächste Entwicklungsstufe der Ernährungsberatung ist, sein muss.

Emotionales Essen & Ernährungspsychologie

Aus logischer Perspektive kann es, betrachtet man das emotionale Essen, nur auf eine ernährungspsychologische Betrachtungsweise hinauslaufen. Das Vermitteln von reinen Ernährungsinformationen bringt also nur dann etwas, wenn auf der Wissensebene ein Mangel besteht. Dieser Mangel wird kleiner und kleiner, je weiter die digitale Vermittlung von Wissen sowie die Medienkompetenz der Menschen zunimmt. Emotionen hingegen können wir nicht wegrationalisieren und sie spielen beim Essen (siehe oben) eine essenzielle Rolle.

Ernährungsberatung als Psychotherapie für Gesunde

Aus diesem Grund ist die Ernährungsberatung der Zukunft vermutlich eine niedrigschwellige Psychotherapie, wie mein Professor für Ernährungspsychologie, Dr. Klotter immer wieder betont. Sie kann eine psychologische Therapie für größtenteils gesunde Menschen darstellen und auf dieser Ebene sowohl Individuen als auch unsere Gesellschaft entlasten. Emotionales Essen ist ja auch keineswegs pathologisch, sondern völlig normal. Es kann jedoch passieren, dass die Auswirkungen des emotionalen Essens (oder Nicht-Essens) zum Problem werden. 

Dann kann mitunter eine Ernährungsberatung/-therapie äußerst hilfreich sein.

Emotionales Essen: Zusammenfassung & Fazit

Fassen wir zusammen: Wir Menschen haben sechs bzw. sieben Grundemotionen. Furcht, Traurigkeit, Wut, Ekel, Freude, Überraschung und laut Paul Ekman, Verachtung. Aus den fünf erst genannten Emotionen heraus, findet nach meiner persönlichen sowie beruflichen Erfahrung emotionales Essen statt. Sigmund Freud hätte emotionales Essen vermutlich stets als Regression bezeichnet. Paradoxerweise hat er aber selbst bis an sein Lebensende geraucht, was aus heutiger Sicht eine deutlich destruktivere orale Ersatzbefriedigung darstellt als Essen.

Emotionales Essen ist normal

Da wir uns in der ersten Phase unserer psychosexuellen Entwicklung Befriedigung bzw. die Grundemotion der Freude oral verschaffen, ist es nicht weiter verwunderlich, dass wir dazu neigen, in bestimmten Momenten unseres späteren Lebens in diese orale Phase zurückzufallen. Diese Regression ist an sich nichts pathologisches, sondern völlig normal. Es gibt jedoch reifere Möglichkeiten mit seinen Emotionen umzugehen. Hier kommen auch in der Ernährungstherapie und -beratung verhaltenspsychologische Methoden zum Tragen.

Ein allgemeines Beispiel: Herauszuarbeiten, wie wir uns abseits oraler Methoden selbst Freude bereiten können, scheint mir ein kluger Denkansatz zu sein.

Emotionales Essen & Ernährungsberatung

Aus der Perspektive des emotionalen Essens bleibt es für mich unverständlich, wie moderne Ernährungsberatung und -therapie als reine Wissensvermittlung gedacht werden kann. Diese Idee scheint mir ein Relikt alter Zeiten zu sein, das mit fortschreitender Digitalisierung aussterben sollte. Stattdessen kann Ernährungsberatung eine niedrigschwellige Psychotherapie für Menschen mit starken gesunden Anteilen sein/werden. Auf diese Weise können sowohl Individuen als auch unsere Gesellschaft entlastet werden. 

Jetzt Ersttermin buchen

Quellen:

  • BEAR, M.F., CONNORS, B.W.; PARADISO, M.A. (2009/2018): Neurowissenschaften: Ein grundlegendes Lehrbuch für Biologie, Medizin und Psychologie; 4. Auflage
  • KLOTTER, C. (2022): Die Rätsel der tiefenpsychologisch fundierten Psychotherapie: Zeitgemäße Transformationen und akute Dilemmata
  • WEINBERGER, S. (2013): Klientenzentrierte Gesprächsführung: Lern- und Praxisanleitung für psychosoziale Berufe (Edition Sozial)
  • YALOM, I.D. (2015): Existenzielle Psychotherapie